Bis ans Ende der Meere

Der englische Maler John Webber (1751–1793) begleitete Kapitän James Cook auf seiner dritten Reise in die Südsee, von der Cook bekanntlich nicht zurückkehrte, da er am 14. Februar 1779 auf Hawaii bei einem Konflikt mit den Einheimischen ums Leben kam. Webbers Vater stammte aus der Schweiz und war nach England ausgewandert, wo er als Bildhauer seinen Lebensunterhalt verdiente. John Webber wurde als Kind zu einer Schweizer Tante gegeben und erlernte dort auch sein malerisches Handwerk. Im Jahr 1776 bekam er dann das Angebot, Cook als offizieller Expeditionsmaler in die Südsee zu begleiten. Eine solche Reise dauerte damals etwa drei Jahre, wobei die ersten beiden Reisen Cooks zugleich auch Weltumsegelungen waren. Bei seiner dritten Reise hatte Cook zusätzlich denAuftrag, weit nach Norden zu segeln, um nach der Nordwestpassage zu suchen.

Der Schweizer Schriftsteller Lukas Hartmann (geb. 1944) hat John Webber zur zentralen Gestalt eines Romans über diese dritte Südseereise Cooks gemacht. Hartmann gelingt es in seinem Roman sehr gut, das Gefühl von Fremde und Exotik zu vermitteln, das mit einer solchen Reise verbunden war. Webber gerät tatsächlich in eine Welt, die sich von der ihm bekannten fundamental unterscheidet. Auch die moralischen und gesundheitlichen Folgen, die die Begegnung der Südseevölker mit den Weißen hat, werden von ihm klar und unmissverständlich ausgesprochen. So bekommt der Leser ein realistisches Bild dieser Expeditionen des 18. Jahrhunderts vermittelt, die in Europa auf vielfältige Weise das Selbstverständnis der Menschen veränderten.

Lukas Hartmann: Bis ans Ende der Meere. Diogenes Taschenbuch 24024. ISBN: 978-3-257-24024-5. Preis: € 11,90. Dieser Titel kann in der Stadtbibliothek Solingen über die Bergisch-Bib entliehen werden.

Der Mitmacher

Am 5. Januar vor 90 Jahren wurde im Schweizerischen Konolfingen Friedrich Dürrenmatt als Sohn eines reformierten Geistlichen geboren. Sein Vaterhaus hatte einen tiefen Einfluss auf Dürrenmatts Denken, auch wenn er nicht die Karriere eines Geistlichen anstrebte. Im Gegenteil begann der junge Künstler Philosophie zu studieren, noch unsicher, welchem seiner beiden Talente er folgen wollte: der Schriftstellerei oder der Malerei. Doch nach dem Zweiten Weltkrieg war er eines der jungen Talente der Schweiz, das am Schauspielhaus Zürich aufgeführt wurde. Seinen Durchbruch als Schriftsteller hatte er aber erst mit seinem ersten Kriminalroman »Der Richter und sein Henker« (1950). Als mit »Der Besuch der alten Dame« und »Die Physiker« dann gleich zwei seiner Stücke internationale Erfolge wurden, war seine Karriere endgültig festgelegt.

Doch nicht alle Stück Dürrenmatts waren erfolgreich: Im Jahr 1972 entstand »Der Mitmacher«, der sowohl bei der Uraufführung in Zürich als auch in Mannheim komplett durchfiel. Dieser Misserfolg veranlasste Dürrenmatt sich nochmals intensiv mit dem Stück auseinanderzusetzen. Und so erschien vier Jahre später sein Buch »Der Mitmacher. Ein Komplex«, indem das Stück nicht nur um ein Nachwort, sondern auch noch durch ein Nachwort zum Nachwort ergänzt wurde. Hier arbeitet Dürrenmatt nicht nur den philosophischen Hintergrund des gescheiterten Dramas aus, sondern liefert auch eine Auseinandersetzung mit der Tradition des europäischen Theaters, die in der brillanten Erzählung »Das Streben der Pythia« gipfelt.

Ein Buch, das eine Wiederentdeckung des Denkers Dürrenmatt ermöglicht.

Friedrich Dürrenmatt: Der Mitmacher. Ein Komplex. Diogenes Taschenbuch 23054. ISBN: 978-3-257-23054-3. Preis: € 9,90.

Ein schlichtes Herz

Unter dem schlichten Titel »Drei Erzählungen« erschien 1877 in Paris ein Band mit Geschichten aus der Feder Gustave Flauberts, die von Kritikern und Kollegen hoch gelobt wurden. Im Kleinen spiegelt jeder der drei Texte einen Aspekt des Flaubertschen Romanwerks wieder, so dass der nicht einmal 140 Seiten umfassende Band von Kennern durchaus für gleichrangig mit Flauberts Romanen gehalten wird.

Die Auftaktgeschichte »Ein schlichtes Herz« erzählt die Lebensgeschichte Félicités, die 50 Jahre lang als Mädchen für alles im Haushalt der verwitweten Madame Aubain arbeitet. Von zu Hause war sie weggelaufen wegen einer unglücklichen Liebe, und kaum in Pont-l’Évêque angekommen war sie Madame Aubain in die Arme gelaufen, die gerade eine neue Köchin suchte. Félicité geht ganz im Dienst für diese Familie auf; die Kinder Madame Aubains werden für sie wie ihre eigenen Kinder, und als die junge Virginie an einer Lungenentzündung stirbt, beginnt sie einen kleinen Totenkult um sie. Flaubert gelingt es auf knapp 50 Seiten dieses einfache Leben vollständig zu erfassen: Félicités Alltag, ihre Arbeit, ihre unverbrüchliche Treue zu ihrer Herrin, ihre naive Frömmigkeit, ihr Kult um die Toten, ihre Liebe nicht zuletzt zu einem Papagei, den sie noch in ausgestopftem Zustand wie eine Reliquie verehrt, alle diese Elemente fügen sich still und leise zum Lebensbild einer Frau zusammen, die ein schlichtes und dennoch berührendes Leben hatte.

Ergänzt wird das Buch durch »Die Legende von Sankt Julian dem Gastfreien«, eine etwas blutrünstigen Heiligenlegende, und »Herodias«, eine Nacherzählung der biblischen Geschichte vom Tod Johannes des Täufers.

Gustave Flaubert: Drei Erzählungen. Aus dem Franz. von E. W. Fischer. Diogenes Taschenbuch 20724. ISBN: 978-3-257-20724-8. Preis: € 7,90.

Unsichtbar

Paul Auster (geb. 1947) beherrscht die Kunst, literarisch anspruchsvolle und zugleich unterhaltsame und spannende Bücher zu schreiben. Sein jüngstes Buch ist einmal mehr ein Beweis dafür.

»Unsichtbar« beginnt mit den Erlebnissen Adam Walkers, eines jungen Schriftstellers, der im Frühjahr 1967 in New York Literatur studiert. Auf einer Party lernt er Rudolf Born, einen Gastdozenten an seiner Universität, und dessen Freundin Margot kennen. Nur wenige Tage später trifft Adam erneut auf Born, der ihm ein ungewöhnliches Angebot macht: Er habe etwas Geld geerbt und plane, eine literarische Zeitschrift zu gründen. Allerdings brauche er einen Chefredakteur, der sich um alles kümmere; ob Adam diesen Job übernehmen wolle. Adam will eine solche Chance natürlich nicht ausschlagen, und so beginnt für ihn eine höchst abenteuerliche Bekanntschaft.

Der zweite Teil des Buches setzt 40 Jahre später ein: Wir lernen James Freeman kennen, einen erfolgreichen Schriftsteller, der zusammen mit Walker studiert hat. Wir erfahren, dass es sich beim ersten Teil um den Entwurf eines Romans von Walker handelt. Er ist schwer an Krebs erkrankt und bittet Freeman um kollegiale Hilfe bei der Fortsetzung des Romans. Freeman gibt einige Tipps und hält schon bald den zweiten Teil des Romans in Händen, der nicht weniger abenteuerlich von den weiteren Erlebnissen Walkers erzählt. Als Freeman endlich Walker besuchen will, erfährt er, dass der kurz zuvor verstorben ist. Aber er hat einen Entwurf des dritten Teils seines Romans hinterlassen, der in Paris spielt. Neugierig geworden, beginnt Freeman zu recherchieren, wie viel von Adams Roman auf Wahrheit beruht …

Paul Auster: Unsichtbar. Reinbek: Rowohlt, 2010. ISBN: 978-3-498-00081-3. Preis: € 19,95.

Die Erfindung der Poesie

Die literarische Tradition, in der ein Großteil der heutigen Belletristik steht, ist gerade einmal etwas mehr als 250 alt. Deshalb sind uns die Bücher ab etwa der Mitte des 18. Jahrhunderts normalerweise einigermaßen leicht zugänglich, während sich die meisten Erzählungen und Gedichte aus der Zeit davor als eher sperrig und unzugänglich erweisen. Natürlich gibt es auch hier wieder graduelle Unterschiede, aber gerade zu Gedichten der Antike dürften nur wenige heutige Leser einen unmittelbaren Zugang finden.

Der österreichische Schriftsteller, Übersetzer und Literaturwissenschaftler Raoul Schrott (geb. 1964), dessen provokativen Thesen zu Homer und der »Ilias« vor einigen Jahren in den Feuilletons kontrovers diskutiert wurden, hat sich angesichts dieser Situation die Mühe gemacht, auf mehr als 500 Seiten eine reiche Auswahl von Gedichten aus den ersten 4.000 Jahren der Poesie zusammenzustellen, zu übersetzen und zu erläutern. Er beginnt mit den ersten bekannten poetischen Texten der Sumerer, die im 24. Jahrhundert vor Christus entstanden sind, und führt den Leser mittels ausgewählter Beispiele über die altgriechische, römische und arabische Literatur bis hin zu Dafydd ap Gwylim, einem walisischen Dichter des 14. Jahrhunderts.

Dieser Rundgang durch die Lyrik von vier Jahrtausenden erweist sich als ein unterhaltsames Leseabenteuer. Man kann Schrott dabei entweder chronologisch folgen oder sich einzelne Kapitel stöbernd herauspicken. Schrotts Übersetzungen sind immer frisch und direkt, seine Einführungen zu den einzelnen Kapiteln auch für den Laien gut verständlich.

Raoul Schrott: Die Erfindung der Poesie. Gedichte aus den ersten viertausend Jahren. dtv Taschenbuch 13144. ISBN: 978-3-423-13144-5. Preis: € 12,50.

Schuld

Der Jurist Ferdinand von Schirach (geb. 1964) hatte im vergangenen Jahr mit seinem ersten Band von Erzählungen, »Verbrechen«, einen unerwarteten Bestseller-Erfolg. Autor und Verlag haben daher in diesem Jahr eine Fortsetzung erscheinen lassen, die es auch wieder bis auf die Bestsellerlisten geschafft hat. Nach dem bewährten Muster erzählt von Schirach Fälle aus seiner juristischen Praxis nach, tragische, komische, absurde und dann und wann auch einen, der gerecht endet.

Da ist zum Beispiel die Geschichte von Alexandra, die als junge Frau vom Land in die Stadt zieht und sich in den Verkäufer ihres ersten Autos verliebt. Es dauert zwei Jahre, bis die beiden heiraten, und erst als Alexandra mit einem Mädchen schwanger ist, wird ihr Mann ihr gegenüber zum ersten Mal gewalttätig. Was zuerst als ein Ausrutscher unter Alkoholeinfluss erscheint, wird mit den Jahren zu einer systematischen Folter. Als ihr Mann ihr schließlich ankündigt, er werde nun auch noch die gemeinsame Tochter missbrauchen, wird er im Schlaf mit einem schweren Gegenstand erschlagen. Als Täterin kommt offensichtlich nur Alexandra in Frage, die die Tat auch nicht abstreitet. Der medizinische Bericht ihrer Verletzung ist vierzehn Seiten lang und dokumentiert, dass sie von ihrem Mann beinahe totgeschlagen worden wäre. Dennoch hat die Staatsanwaltschaft keine andere Wahl, als sie des Mordes anzuklagen, denn die Tötung eines schlafenden Menschen erfüllt den Tatbestand der Heimtücke. Und auch der Richter hat eigentlich keine Alternative dazu, sie zu lebenslanger Haft zu verurteilen. Die Verhandlung des Falles dauert nur zwei Tage und endet mit einem überraschenden Urteil …

Ferdinand von Schirach: Schuld. Stories. München: Piper, 2010. ISBN: 978-3-492-05422-5. Preis: € 17,95.

Arthur Gordon Pym

Edgar Allan Poe (1809–1849) war unter den ersten amerikanischen Schriftstellern, die versucht haben, vom Schreiben zu leben. Er arbeitete für die damals neu entstehenden Magazine, die damals aufgrund von Fortschritten in der Drucktechnik und den verbesserten Vertriebsmöglichkeiten durch die Eisenbahn in großer Zahl gegründet wurden. Diese Magazine kamen dem schriftstellerischen Talent Poes entgegen, da er ein Meister sowohl des Gedichts als auch der kurzen Erzählung war. Doch konnte man als Zeitungsschreiber und -redakteur nur wenig überregionalen Ruhm erwerben. Deshalb entschloss sich Poe, einen Roman zu schreiben, und er legte es mit Konsequenz auf einen Bestseller an.

In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erfreuten sich sowohl Romane als auch Sachbücher, die von den Abenteuern der Seefahrt handelten, großer Beliebtheit. Und so schickt auch Poe seinen Helden Arthur Gordon Pym auf eine Seereise, die ihn nach einer Reihe von nahezu unglaublichen Abenteuern und Entbehrungen – Meuterei, Schiffsbruch, wochenlanges Treiben auf hoher See – endlich in die damals noch weitgehend unerforschten Gebiete der Antarktis verschlägt. Dort entdeckt man auf der Insel Tsalal einen Volksstamm, der noch in steinzeitlichen Verhältnissen lebt. Obwohl diese ›Wilden‹ zuerst freundlich scheinen, greifen sie ihre Entdecker schließlich an und zerstören ihr Schiff. Nur Pym kann mit einem Kameraden entkommen und treibt nun in einem kleinen Boot immer weiter dem Südpol zu …

Poes einziger Roman ist mit seiner überbordenen und exaltierten Phantasie bis heute eines der bedeutenden Muster der Abenteuer- und phantastischen Literatur geblieben.

Edgar Allan Poe: Der Bericht des Arthur Gordon Pym. Insel Taschenbuch 1449. ISBN: 978-3-458-33149-0. Preis: € 9,00. Dieser Titel kann in der Stadtbibliothek Solingen als Hörbuch und auf CD-ROM entliehen werden.

Diktate über Sterben und Tod

Am 19. Dezember 1981 bekam der 56-jährige Schweizer Jurist Peter Noll eine schlimme Diagnose gestellt: Blasenkrebs in fortgeschrittenem Stadium. Er war damals ordentlicher Professor für Strafrecht in Zürich, ein angesehener, wenn auch nicht immer bequemer Kollege, befreundet mit zahlreichen Künstlern und Schriftstellern, darunter auch Max Frisch. Nach einer Konsultation mit seinem Arzt, trifft Noll sehr rasch eine überraschende Entscheidung: Er wird sich nicht operieren lassen, selbst wenn sich eine solche Operation als möglich erweisen sollte. Er ist nicht bereit, die mit der Therapie einhergehende Einbuße an Selbstbestimmung und Lebensqualität hinzunehmen. Er will seine letzten Tage würdevoll, bewusst und so selbstständig wie möglich verleben, auch wenn das bedeutet, dass er nur noch wenige Monate zu leben haben wird. Am 28. Dezember beginnt er auf Vorschlag von Max Frisch ein Tagebuch, dass seine letzten Lebensmonate und sein Sterben dokumentiert. Am 9. Oktober 1982 stirbt Peter Noll nach einer kurzen Agonie. Sein Tagebuch ist erstmals 1984 erschienen.

Natürlich ist es außergewöhnlich, dass sich in unserem medizinischen Zeitalter ein Todkranker gegen eine Behandlung und für seinen Tod entscheidet. Wirklich erstaunlich aber ist, wie gelassen und ruhig Peter Noll mit dieser allen Menschen bevorstehenden Erfahrung umgeht. Seine lebenslange Auseinandersetzung mit seinem christlichen Glauben bildet die Grundlage dieser Gelassenheit. Ein Buch für alle, die bereit sind, sich mit der unumgehbaren Endlichkeit unserer Existenz auseinanderzusetzen.

Peter Noll: Diktate über Sterben und Tod. Piper Taschenbuch 5723. ISBN: 978-3-492-25723-7. Preis: € 9,95. Dieser Titel kann in der Stadtbibliothek Solingen über die Bergisch-Bib entliehen werden.

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Robinson Crusoe

Wann genau Daniel Defoe geboren wurde, weiß heute keiner mehr, aber es wird vor etwa 350 Jahren in London gewesen sein. An der Wiege hat man ihm nicht gesungen, dass er einst ein weltberühmter Autor werden würde. Defoe, der nach dem Willen des Vaters Geistlicher hätte werden sollen, schlug erst einmal eine Kaufmannskarriere ein. Nach einem großen Bankrott schlug er sich als Essayist und Journalist durch, bis im Jahr 1719 – Defoe war bereits 59 Jahre alt – sein erster Roman erschien, der zugleich der erste englische Roman im modernen Sinne war: Robinson Crusoe.

Die allermeisten Leser kennen von diesem Buch nur den ersten Teil, in dessen Zentrum die 28 Jahre stehen, die Robinson mehr oder weniger allein auf einer Insel verbringt. Nicht so bekannt dürfte hierzulande sein, dass Defoe dem Inselabenteuer einen zweiten Band folgen ließ, in dem Robinson nicht nur als reicher Mann zu seiner Insel zurückkehrt und dort ordnend in einen von Engländern und Spaniern gegründeten Staat eingreift, sondern auch zahlreiche weitere Abenteuer in China, Indien, Persien und Russland erlebt. Defoe hat sogar noch einen dritten Band folgen lassen, der Essays enthält, die vorgeblich aus der Feder Robinsons stammen.

Doch allein schon mit dem Insel-Abenteuer des Robinson Crusoe ist es Defoe gelungen, ein Roman-Genre zu begründen, das sich bis heute ungebrochener Beliebtheit erfreut. Noch immer ist es eine der großen Herausforderungen für den Menschen, ob es ihm – und sei es auch nur in der Phantasie – gelingt, auf sich gestellt und nur mit spartanischen Mitteln ausgerüstet vor der Natur zu bestehen.

Daniel Defoe: Robinson Crusoe. Erster u. zweiter Teil. Deutsch v. Lore Krüger. Aufbau Taschenbuch 2612. ISBN: 978-3-7466-2612-3. Preis: € 11,95.

Zettel’s Traum

Im Jahr 1964 kündigte der Schriftsteller Arno Schmidt (1914–1979) sein nächstes Buch in seiner eigenwilligen Rechtschreibung wie folgt an: »Ich werde mich in meine großen, nunmehr brechend=follen Zettelkästen zurückziehen; und daraus, binnen Jahresfrist, mit einem 1000=Seiten=Text auftauchen, dergleichen man zwischen den vier Ekken eines Buches bisher noch nicht erblickt hat.« Es hat dann doch erheblich länger als ein Jahr gedauert, aber herausgekommen ist tatsächlich ein Buch, wie man es zuvor noch nie erblickt hatte. Als »Zettel’s Traum« 1970 erschien, war es die Sensation auf dem Buchmarkt: Es wog fast 10 kg und hatte über 1330 Seiten im DIN-A3-Format, die nicht einen gesetzten Text präsentierten, sondern eine photomechanische Wiedergabe des Typoskriptes des Autors mit seinen handschriftlichen Korrekturen, Ergänzungen und Streichungen. Die Textmenge entspricht ungefähr 4.000 normalen Buchseiten, und um die Skurrilität auf die Spitze zu treiben, umfasst die Handlung nur einen einzigen Hochsommertag der späten 60er Jahre in der Lüneburger Heide. Hinzu kam, dass Schmidt sich aufgrund seiner psychoanalytischen Sprachtheorie nicht an die Duden-Rechtschreibung gehalten hatte. Und obwohl das Buch den damals astronomischen Preis von 295 DM kostete, waren alle 2.000 Exemplare der ersten Auflage bereits bei Auslieferung verkauft.

Nun erscheint in diesen Tagen »Zettel’s Traum« erneut, diesmal im ordentlichen Buchsatz auf über 1.500 Seiten. Mit dieser Neuausgabe wird einer der umfangreichsten und originellsten Romane der deutschen Literatur wiederentdeckt.

Arno Schmidt: Zettel’s Traum. Studienausgabe in 4 Bänden. Berlin: Suhrkamp, 2010. ISBN: 978-3-518-80300-4. Preis: € 198,–. Die ursprüngliche Typoskriptausgabe kann in der Stadtbibliothek Solingen über die Bergisch-Bib entliehen werden.