Alles Mythos!

Der Titel ist ein wenig irreführend, denn dieses Buch handelt nicht von Mythen im eigentlichen Sinne, sondern die Autorin korrigiert einige weitverbreitete Vorurteile über das Mittelalter. So etwa, dass die Menschen im Mittelalter durchweg dumm und ungebildet waren, dass sie sich gegen neue Erfindungen und technische Entwicklungen gesträubt hätten, dass das einfache Volk unter erbärmlichen Bedingungen gelebt habe, während es sich der Adel gut habe gehen lassen und vieles anderes mehr.

Dabei entsteht ein lebendiges und aktuelles Bild von Leben und Alltag im Mittelalter, also der Zeit Jahre zwischen ca. 500 – dem Untergang des weströmischen Reichs – bis etwa 1500 – dem Abschluss der der Rückeroberung Spaniens von den Mauren. Dabei werden nicht nur alle gesellschaftlichen Schichten und Gruppen behandelt, sondern auch Fragen wie die nach der rechtlichen Stellung der Frau, der Stellung der Kirche in der Gesellschaft oder dem sozialen Status der Ritterschaft. Vieles wird die Leser überraschen, so etwa die aktive Stellung der Frauen in Handel und Gewerbe – in Köln zum Beispiel waren es zumeist Frauen, die die Zunft der Seidenweber beherrschten – oder die Tatsache, dass die Hexenverfolgung eher eine Angelegenheit der frühen Neuzeit als des angeblich so dunklen Mittelalters gewesen ist. Auch über das Rittergewerbe und die Absichten der Kreuzfahrer weiß Karin Schneider-Ferber interessantes und überraschendes zu berichten.

Das Buch zeichnet sicher ein summarisches und chronologisch unzureichend bleibendes Bild des Mittelalters, doch erfüllt es die selbst gestellte Aufgabe, allgemeine Vorurteile zu entlarven, auf das Beste.

Karin Schneider-Ferber: Alles Mythos! 20 populäre Irrtümer über das Mittelalter. Stuttgart: Theiss, 2009. ISBN: 978-3-8062-2237-1. Preis: € 16,90. Dieser Titel kann in der Stadtbibliothek Solingen als Buch und als als eBook ausgeliehen werden.

Die Erfindung der Poesie

Die literarische Tradition, in der ein Großteil der heutigen Belletristik steht, ist gerade einmal etwas mehr als 250 alt. Deshalb sind uns die Bücher ab etwa der Mitte des 18. Jahrhunderts normalerweise einigermaßen leicht zugänglich, während sich die meisten Erzählungen und Gedichte aus der Zeit davor als eher sperrig und unzugänglich erweisen. Natürlich gibt es auch hier wieder graduelle Unterschiede, aber gerade zu Gedichten der Antike dürften nur wenige heutige Leser einen unmittelbaren Zugang finden.

Der österreichische Schriftsteller, Übersetzer und Literaturwissenschaftler Raoul Schrott (geb. 1964), dessen provokativen Thesen zu Homer und der »Ilias« vor einigen Jahren in den Feuilletons kontrovers diskutiert wurden, hat sich angesichts dieser Situation die Mühe gemacht, auf mehr als 500 Seiten eine reiche Auswahl von Gedichten aus den ersten 4.000 Jahren der Poesie zusammenzustellen, zu übersetzen und zu erläutern. Er beginnt mit den ersten bekannten poetischen Texten der Sumerer, die im 24. Jahrhundert vor Christus entstanden sind, und führt den Leser mittels ausgewählter Beispiele über die altgriechische, römische und arabische Literatur bis hin zu Dafydd ap Gwylim, einem walisischen Dichter des 14. Jahrhunderts.

Dieser Rundgang durch die Lyrik von vier Jahrtausenden erweist sich als ein unterhaltsames Leseabenteuer. Man kann Schrott dabei entweder chronologisch folgen oder sich einzelne Kapitel stöbernd herauspicken. Schrotts Übersetzungen sind immer frisch und direkt, seine Einführungen zu den einzelnen Kapiteln auch für den Laien gut verständlich.

Raoul Schrott: Die Erfindung der Poesie. Gedichte aus den ersten viertausend Jahren. dtv Taschenbuch 13144. ISBN: 978-3-423-13144-5. Preis: € 12,50.

Die Kinder der Finsternis

Wolf von Niebelschütz (1913–1960) ist ein Dauergeheimtipp der deutschen Nachkriegsliteratur. Er hat niemals den Durchbruch zu wirklicher Prominenz geschafft, doch seine beiden großen Romane »Der blaue Kammerherr« (1949) und »Die Kinder der Finsternis« (1959) sind seit ihrem Erscheinen mit kleineren Unterbrechungen eigentlich immer im Druck gewesen. Gerade hat nun der Züricher Verlag Kein & Aber die beiden umfangreichen Bücher wieder vorgelegt.

Niebelschütz, der Geschichte und Kunstgeschichte studiert hatte, konnte schon vor dem Zweiten Weltkrieg einige seiner Gedichte in der »Neuen Rundschau« veröffentlichen, wurde dann aber 1940 zur Wehrmacht eingezogen. Auf einem Wehrmachtsschreibtisch im besetzten Paris schrieb er große Teile seines ersten Romans, der kurz nach dem Krieg im jungen Suhrkamp Verlag erscheint.

Erst zehn Jahre später folgt dann »Die Kinder der Finsternis«, ein fantastisch-historischer Roman, der im Hochmittelalter spielt. Als Schauplatz erfindet Niebelschütz zwischen die Provence und das von den Mauren besetzte Spanien das kleine Reich Kelgurien hinein, in dem Barral, der Held des Buches und Bastardsohn eines Barons, durch glückliche Umstände zur Herrschaft gelangt. Und er wird ein außergewöhnlicher Herrscher, der versucht, sein kleines Land soweit es geht aus den Unwägbarkeiten der großen Politik herauszuhalten. Zudem schließt er Freundschaft über die Landes- und Glaubensgrenzen hinaus mit den muslimischen Nachbarn, die sich als wissenschaftlich und kulturell hoch überlegen erweisen.

Ein überaus kluges und an historischen Details reiches Buch.

Wolf von Niebelschütz: Die Kinder der Finsternis. Zürich: Kein & Aber, 2010. ISBN: 978-3-0369-5559-9. Preis: € 24,90. Dieser Titel kann in der Stadtbibliothek Solingen über die Bergisch-Bib entliehen werden.

Der Erwählte

Nach der großen Anstrengung seines »Doktor Faustus« (1947) schrieb Thomas Mann als nächsten einen humoristischen und leichten Roman: »Der Erwählte« (1951). Es handelt sich dabei um eine parodistische Neuerzählung des »Gregorius« des Hartmann von Aue (12./13. Jahrhundert). Erzählt wird die Geschichte eines aus der verbotenen Liebe zweier Geschwister aus Fürstenhaus hervorgegangenen Knaben, der als Baby ausgesetzt wird, auf einer der Kanalinseln heranwächst und dort zum Geistlichen erzogen wird. Trotz dieser Ausbildung drängt es Gregorius, Ritter zu werden, was er schließlich auch durchsetzt.

Er kehrt unwissentlich in seine Heimat zurück, befreit die Stadt, in der seine Mutter residiert, von einer Belagerung und heiratet im Anschluss seine Mutter, mit der er zwei Töchter zeugt. Als zufällig die verwickelten Verwandtschaftsverhältnisse zutage kommen, verbannt sich Gregorius zu einem Exil im Sünderhemd auf einer winzigen Felseninsel, auf der er auf wundersame Weise von der Erde selbst genährt wird. Befreit wird er nach 17 Jahren von zwei römischen Gesandten, die sich aufgrund einer göttlichen Vision auf die Suche nach ihm gemacht hatten, um ihn als Papst nach Rom zu führen.

Diese im Grunde gräuliche Geschichte, die übrigens keinem wirklichen Papst zugeordnet wird, ist schon bei Hartmann mit zahlreichen märchenhaften und fantastischen Elementen durchsetzt. Mit Hilfe seines leichten und ironischen Tons verwandelt Thomas Mann diesen Stoff in ein humoristisches Glanzstück. Ich empfehle, sich das Büchlein vom »König der Vorleser«, Gert Westphal, vorlesen zu lassen.

Thomas Mann: Der Erwählte. Ungekürzte Lesung von Gert Westphal. Berlin: Universal/Deutsche Grammophon, 2005. 10 CDs mit zus. etwa 660 Minuten Laufzeit. Preis: ca. 60,- €.

Die Jüdin von Toledo

Vor 50 Jahren, am 21. Dezember 1958, starb in Los Angeles, im amerikanischen Exil, der deutsche Schriftsteller Lion Feuchtwanger. Zu seinen Lebzeiten gehörte er zu den meistgelesenen deutschen Schriftstellern sowohl in den USA als auch in Russland. Als Jude war er Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung und lebte von 1932 an im Ausland, nach abenteuerlicher Flucht aus Europa ab 1941 in den USA. Neben einigen bedeutenden Zeitromanen lag sein schriftstellerisches Hauptgewicht auf den historischen Romanen.

»Die Jüdin von Toledo« (1955) handelt zur Zeit des Hochmittelalters im zum Teil moslemisch besetzten Spanien. Im Zentrum steht die legendenhafte Affäre des kastilischen Königs Alfonso VIII. mit einer Jüdin, im Volksmund »La Fermosa«, die Schöne, genannt. Dieses Thema ist bereits seit dem 16. Jahrhundert in Balladen, Theaterstücken und Erzählungen ausgiebig behandelt worden. Das Verdienst von Feuchtwangers Bearbeitung des Stoffes ist es, die tragische Liebesgeschichte in einen konkreten historischen Rahmen einzustellen. Sein Alfons VIII. verliebt sich in die Tochter seines jüdischen Ministers und Finanzberaters Jehuda Ibn Esra. Der willigt in diese Affäre ein, weil er glaubt, den König so besser vom verderblichen Kriegshandwerk abhalten zu können. Doch als sich der König in seine Liebe zur Fermosa verliert, wächst die Eifersucht seiner Frau, Eleonora, Tochter des englischen Königs Heinrich II. Sie beginnt nun alle Hebel in Bewegung zu setzten, um ihren Mann in einen erneuten Krieg gegen die Mauren zu stürzen, in der Hoffnung, dass er auf dem Schlachtfeld seine schöne Jüdin vergessen werde.

Lion Feuchtwanger: Die Jüdin von Toledo. Aufbau Taschenbuch 5638. ISBN: 978-3-7466-5638-0. Preis: € 9,95.