Der Verrückte des Zaren

Jaan Kross (1920–2007) ist noch der bekannteste unter all den unbekannten Schriftstellern Estlands. Es war ausgebildeter Jurist und hat nach dem Zweiten Weltkrieg acht Jahre lang in russischer Verbannung in Sibirien leben müssen, bevor er 1954 in seine Geburtsstadt Tallinn zurückkehren durfte. Als Schriftsteller hat er zuerst Gedichte geschrieben, in den 60er Jahren dann Essays und Kurzgeschichten, um schließlich seinen monumentalen Roman »Das Leben des Balthasar Rüssow« zu verfassen, an dem er über zehn Jahre geschrieben hat.

Die meisten Romane von Jan Kross sind historische Romane, die sich um Personen drehen, die wirklich gelebt haben und für die Geschichte Estlands von Bedeutung waren; so auch »Der Verrückte des Zaren« (1978). Erzählt wird darin die Geschichte des deutschbaltischen Adeligen Timotheus Eberhard von Bock (1787–1836), der unter Zar Alexander I. Karriere in der russischen Armee machte. Zwischen 1805 und 1813 nahm er an zahlreichen Feldzügen teil, zuletzt im Rang eines Oberst, war Flügeladjutant des Zaren, zu dem er wohl ein freundschaftliches Verhältnis hatte.

Kross’ Interesse an ihm beginnt aber erst, als sich von Bock im Jahr 1818, als er inzwischen auf seinem Gut in Estland lebt, mit einer Denkschrift an den Zaren wendet, in der er tiefgreifende Reformationen fordert: Aufhebung des Absolutismus und Abschaffung der Leibeigenschaft. Von Bock wird daraufhin unter der Annahme, er sei verrückt geworden, verhaftet und für neun Jahre in Festungshaft gebracht. Nachdem er 1827 in einen Hausarrest auf seinen Gütern entlassen wird, plant er seine Flucht aus Estland …

Jaan Kross: Der Verrückte des Zaren. Aus dem Estnischen von Helga Viira. dtv Taschenbuch 20655. ISBN: 978-3-423-20655-6. Preis: € 11,90.

Die Kinder der Finsternis

Wolf von Niebelschütz (1913–1960) ist ein Dauergeheimtipp der deutschen Nachkriegsliteratur. Er hat niemals den Durchbruch zu wirklicher Prominenz geschafft, doch seine beiden großen Romane »Der blaue Kammerherr« (1949) und »Die Kinder der Finsternis« (1959) sind seit ihrem Erscheinen mit kleineren Unterbrechungen eigentlich immer im Druck gewesen. Gerade hat nun der Züricher Verlag Kein & Aber die beiden umfangreichen Bücher wieder vorgelegt.

Niebelschütz, der Geschichte und Kunstgeschichte studiert hatte, konnte schon vor dem Zweiten Weltkrieg einige seiner Gedichte in der »Neuen Rundschau« veröffentlichen, wurde dann aber 1940 zur Wehrmacht eingezogen. Auf einem Wehrmachtsschreibtisch im besetzten Paris schrieb er große Teile seines ersten Romans, der kurz nach dem Krieg im jungen Suhrkamp Verlag erscheint.

Erst zehn Jahre später folgt dann »Die Kinder der Finsternis«, ein fantastisch-historischer Roman, der im Hochmittelalter spielt. Als Schauplatz erfindet Niebelschütz zwischen die Provence und das von den Mauren besetzte Spanien das kleine Reich Kelgurien hinein, in dem Barral, der Held des Buches und Bastardsohn eines Barons, durch glückliche Umstände zur Herrschaft gelangt. Und er wird ein außergewöhnlicher Herrscher, der versucht, sein kleines Land soweit es geht aus den Unwägbarkeiten der großen Politik herauszuhalten. Zudem schließt er Freundschaft über die Landes- und Glaubensgrenzen hinaus mit den muslimischen Nachbarn, die sich als wissenschaftlich und kulturell hoch überlegen erweisen.

Ein überaus kluges und an historischen Details reiches Buch.

Wolf von Niebelschütz: Die Kinder der Finsternis. Zürich: Kein & Aber, 2010. ISBN: 978-3-0369-5559-9. Preis: € 24,90. Dieser Titel kann in der Stadtbibliothek Solingen über die Bergisch-Bib entliehen werden.

November 1918

Alfred Döblin (1878–1957) wird oft nur als Autor eines einzigen Buchs wahrgenommen: Mit »Berlin Alexanderplatz« hatte Döblin 1929 den ersten bedeutenden deutschsprachigen Großstadtroman geliefert, beeinflusst einerseits von James Joyces »Ulysses« und John Dos Passos’ »Manhattan Transfer«, andererseits von Erzähltechniken der italienischen Futuristen. Die Geschichte des Franz Biberkopf, der nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis versucht, ein »guter Mensch« zu werden, wurde auch mehrfach verfilmt, zuletzt von Rainer Werner Fassbinder als über 15-stündiger TV-Mehrteiler.

Döblin musste 1933 vor den Nationalsozialisten aus Deutschland fliehen und erreichte über die Schweiz, Frankreich und Portugal schließlich die USA. In den Jahren des Exils entstand unter schwierigen Verhältnissen der umfangreiche Romanzyklus »November 1918«, der auf etwa 2.300 Seiten das Ende des Ersten Weltkriegs und die Zeit des Umbruchs vom deutschen Kaiserreich zur Weimarer Republik beschreibt. Döblin verfolgt in den vier Romanen des Zyklus die Schicksale eines Ensembles, das Figuren von der die politische Führung der entstehenden Republik bis hin zum Berliner Proletariat, von der militärischen Führung bis zum versehrten Kriegsheimkehrer, vom unpolitischen Intellektuellen bis zum politischen Agitator umfasst. Die Handlung präsentiert dabei sowohl konkreten Lebensalltag dieser Umbruchzeit als auch die historische Entwicklungen und politischen Entscheidungen, die diese Zeit geprägt haben. »November 1918« wurde auf diese Weise ein außergewöhnlich lebendiger und anschaulicher Roman über eine der spannendsten Phasen der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts.

Alfred Döblin: November 1918. Eine deutsche Revolution. 4 Bde. dtv 59030. ISBN: 978-3-423-59030-3. Preis: € 68,00. Dieser Titel kann in der Stadtbibliothek Solingen über die Bergisch-Bib entliehen werden.