Ein schlichtes Herz

Unter dem schlichten Titel »Drei Erzählungen« erschien 1877 in Paris ein Band mit Geschichten aus der Feder Gustave Flauberts, die von Kritikern und Kollegen hoch gelobt wurden. Im Kleinen spiegelt jeder der drei Texte einen Aspekt des Flaubertschen Romanwerks wieder, so dass der nicht einmal 140 Seiten umfassende Band von Kennern durchaus für gleichrangig mit Flauberts Romanen gehalten wird.

Die Auftaktgeschichte »Ein schlichtes Herz« erzählt die Lebensgeschichte Félicités, die 50 Jahre lang als Mädchen für alles im Haushalt der verwitweten Madame Aubain arbeitet. Von zu Hause war sie weggelaufen wegen einer unglücklichen Liebe, und kaum in Pont-l’Évêque angekommen war sie Madame Aubain in die Arme gelaufen, die gerade eine neue Köchin suchte. Félicité geht ganz im Dienst für diese Familie auf; die Kinder Madame Aubains werden für sie wie ihre eigenen Kinder, und als die junge Virginie an einer Lungenentzündung stirbt, beginnt sie einen kleinen Totenkult um sie. Flaubert gelingt es auf knapp 50 Seiten dieses einfache Leben vollständig zu erfassen: Félicités Alltag, ihre Arbeit, ihre unverbrüchliche Treue zu ihrer Herrin, ihre naive Frömmigkeit, ihr Kult um die Toten, ihre Liebe nicht zuletzt zu einem Papagei, den sie noch in ausgestopftem Zustand wie eine Reliquie verehrt, alle diese Elemente fügen sich still und leise zum Lebensbild einer Frau zusammen, die ein schlichtes und dennoch berührendes Leben hatte.

Ergänzt wird das Buch durch »Die Legende von Sankt Julian dem Gastfreien«, eine etwas blutrünstigen Heiligenlegende, und »Herodias«, eine Nacherzählung der biblischen Geschichte vom Tod Johannes des Täufers.

Gustave Flaubert: Drei Erzählungen. Aus dem Franz. von E. W. Fischer. Diogenes Taschenbuch 20724. ISBN: 978-3-257-20724-8. Preis: € 7,90.

Denken wir uns

Der große deutsche Humorist Robert Gernhardt (1937–2006) war als Maler und Autor eine echte Doppelbegabung und auf diese Weise ein würdiger Nachfolger Wilhelm Buschs. Er wurde in Tallinn, Estland, als Sohn eines Richters geboren, der 1945 fiel. Die Mutter floh mit ihren drei Söhnen in den Westen und ließ sich 1946 in Göttingen nieder. Robert Gernhardt besuchte nach Abschluss der Schule die Akademien in Stuttgart und Berlin und studierte dort Malerei. Ab dem Jahr 1964 lebte er als Maler, Karikaturist und Schriftsteller in Frankfurt am Main. Er arbeitete für die Satirezeitschrift »Pardon« und später auch für die  »Titanic«. Er war Mitbegründer und einer der wichtigsten Vertreter der sogenannten Neuen Frankfurter Schule.

Als Schriftsteller hat Gernhardt sowohl ein breites lyrisches als auch umfangreiches erzählerisches und essayistisches Werk geschaffen. In seiner humoristischen Lyrik verbindet sich oft sein zeichnerisches Talent mit seiner Neigung zum absurden Kurzgedicht.

Der Erzählband »Denken wir uns« erschien 2007 posthum als das letzte Buch, das Gernhardt noch selbst zusammengestellt hatte. Es enthält noch einmal eine breite Auswahl der Gernhardtschen Erzählkunst, von der absurden Anekdote bis zur historischen Erzählung, vom Essay bis zum metaphysisch-humoristschen Gedankenspiel. Die 26 Stücke werden eher locker dadurch verbunden, dass sie alle mit der Phrase »Denken wir uns« beginnen. Der schmale Band bietet eine gute Gelegenheit, die ganze Vielfalt des Gernhardtschen Erzählens Revue passieren zu lassen. Ein immer heiteres, gelegentlich aber auch nachdenklich stimmendes Büchlein.

Robert Gernhardt: Denken wir uns. Fischer Taschenbuch 17671. ISBN: 978-3-596-17671-7. Preis: € 9,95.