Haus Bellomont

Lily Bart ist eine junge Frau, die um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert in der Gesellschaft der Oberen Zehntausend New Yorks lebt. Ihre beiden Eltern sind schon verstorben und haben sie mit nur einem kleinen Erbe zurĂŒckgelassen. Lily lebt bei einer Tante, die sie unterstĂŒtzt, bis Lily das Ziel aller junger Frauen ihrer Gesellschaftsschicht erreicht hat: einen reichen Ehemann zu erobern. Ihre Voraussetzungen dafĂŒr sind ausgezeichnet, denn Lily ist von außerordentlicher Schönheit. Doch ist sie auch ein wenig leichtsinnig und steht sich damit selbst im Weg. Als sie Gelegenheit hat, einen hervorragenden Heiratskandidaten einzuwickeln, vertreibt sie sich die Zeit lieber mit einem Flirt mit dem Rechtsanwalt Lawrence Selden, in den sie zwar verliebt ist, der fĂŒr sie aber aufgrund seiner finanziellen VerhĂ€ltnisse als Ehemann nicht in Frage kommt.

Und auch sonst lĂ€sst sich Lily auf Abenteuer ein: Sie leiht sich Geld vom Ehemann einer ihrer Freundinnen, ist allerdings des Glaubens, dieser habe mit ihrem eigenen Geld an der Börse spekuliert und zahle ihr nur den Gewinn aus. Als ihr Gönner fĂŒr seine Geldgeschenke handfeste Gegenleistungen erwartet, verweigert sich Lily ihm voller Entsetzen. Das ist der Anfang ihres gesellschaftlichen Untergangs …

Die US-amerikanische Autorin Edith Wharton (1862–1937), die es in Deutschland nie zu wirklicher Bekanntschaft gebracht hat, obwohl zahlreiche ihrer Romane ĂŒbersetzt wurden, hatte mit »Haus Bellomont« 1905 ihren ersten Erfolg. Ihr prĂ€zises und ironisches PortrĂ€t des nordamerikanischen Geldadels ist noch heute vergnĂŒglich zu lesen und war Anregung fĂŒr Autoren wie F. Scott Fitzgerald und Ernest Hemingway.

Edith Wharton: Haus Bellomont. Heyne Taschenbuch 20057. ISBN: 3-453-18873-X. Derzeit nicht lieferbar.

Von den alltÀglichen Dingen

Nach seinem Bestseller »Eine kurze Geschichte von fast allem« liefert Bryson nun mit »Eine kurze Geschichte der alltĂ€glichen Dinge» ein weiteres umfangreiches Sachbuch, das sich im Wesentlichen als eine Kulturgeschichte des Alltags im 19. Jahrhundert liest. Auf die Idee zu diesem Buch kam Bryson als er ein altes, zweistöckiges Pfarrhaus in Norfolk kaufte, das Mitte des 19. Jahrhunderts erbaut wurde, und dabei unter anderem auf die alten BauplĂ€ne stieß, die auch die ehemalige Nutzung der einzelnen RĂ€ume erkennen ließen. Anhand dieser PlĂ€ne und auf einem Gang durch die heute tatsĂ€chlich existierenden RĂ€umlichkeiten erzĂ€hlt Bryson eine breit gefĂ€cherte Kulturgeschichte, deren Hauptgewicht auf den zur Bauzeit aktuellen Entwicklungen und Erfindungen in England liegt, sich aber bei einzelnen Themen auch bis in die Antike und sogar in vorgeschichtliche Zeiten zurĂŒckbegibt.

Wie schon in seinem Buch Â»ĂŒber fast Alles« erweist sich Bryson nicht nur als ein begabter ErzĂ€hler, der ein exzellentes GespĂŒr dafĂŒr hat, was erzĂ€hlt werden muss und was fortgelassen werden kann, sondern einmal mehr auch als ein brillanter Rechercheur und Organisator des historischen Materials. Auch wenn das Buch zu Abschweifungen neigt, die oft nur sehr locker an das vom gerade besuchten Raum vorgegebene Thema angeknĂŒpft sind, ist die LektĂŒre immer unterhaltsam und kurzweilig, ganz zu schweigen von den unzĂ€hligen kuriosen Informationen, die wie nebenbei abfallen.

Brysons zweite »kurze Geschichte« ist eine facettenreiche, eingĂ€ngige und gut lesbare EinfĂŒhrung in die Welt Englands und Europas zur Zeit der Königin Viktoria.

Bill Bryson: Eine kurze Geschichte der alltĂ€glichen Dinge. MĂŒnchen: Goldmann, 2011. ISBN: 978-3-442-30122-5. Preis: € 24,99.

Sherlock Holmes

Als Arthur Conan Doyle 1887 seinen ersten Sherlock-Holmes-Roman »Eine Studie in Scharlachrot« veröffentlichte, ahnte er wohl kaum, dass er mit Holmes eines der wichtigsten Muster fĂŒr ein ganzes Literatur-Genre des 20. Jahrhunderts liefern wĂŒrde: den analytischen Detektiv.

Nun hat sich aufgrund der zahlreichen Verfilmungen der Holmes-ErzĂ€hlungen und -Romane bei den meisten Lesern ein typisches Bild des Londoner Privat-Ermittlers herausgebildet: Holmes als gediegene, etwas Ă€ltere Erscheinung, gekleidet in karierten Tweed, mit einer ebensolchen Jagdkappe und einer stets brennenden Pfeife. Der aufmerksame Leser der BĂŒcher weiß aber, dass es sich bei Holmes um einen durchaus sportlichen Mann handelt, der eine Neigung zum Drogenkonsum hat, das Geigenspiel mehr liebt als wirklich beherrscht und wohl eher als Außenseiter der guten Gesellschaft anzusehen ist. Auch von seinem Begleiter Dr. Watson haben die meisten eine recht falsche Vorstellung.

Schon von daher ist es sehenswert, wie der britische Regisseur Guy Ritchie die Holmes-Figur aufpoliert: Sein Holmes (Robert Downey jr.) ist schnell, athletisch, ein Faust-KĂ€mpfer von großem Geschick und zugleich ein GrenzgĂ€nger zwischen Genie und Wahnsinn. Und auch Dr. Watson (Jude Law) wird deutlich verjĂŒngt. In ihm erkennt man erstmals Doyles Afghanistan-Veteranen, der dabei ist, sich wieder in seiner Heimat zu etablieren. Ein flotter und witziger Film, der das London des spĂ€ten 19. Jahrhunderts noch einmal in all seiner ModernitĂ€t und Faszination erstehen lĂ€sst.

»Sherlock Holmes«. USA, 2009. 1 DVD, Warner Brothers. Sprache: Deutsch, Englisch. LĂ€nge: ca. 123 Minuten. Extras: »Der moderne Sherlock Holmes«. FSK: ab 12 Jahren. Preis: ca. € 6,–.

Ein schlichtes Herz

Unter dem schlichten Titel »Drei ErzĂ€hlungen« erschien 1877 in Paris ein Band mit Geschichten aus der Feder Gustave Flauberts, die von Kritikern und Kollegen hoch gelobt wurden. Im Kleinen spiegelt jeder der drei Texte einen Aspekt des Flaubertschen Romanwerks wieder, so dass der nicht einmal 140 Seiten umfassende Band von Kennern durchaus fĂŒr gleichrangig mit Flauberts Romanen gehalten wird.

Die Auftaktgeschichte »Ein schlichtes Herz« erzĂ€hlt die Lebensgeschichte FĂ©licitĂ©s, die 50 Jahre lang als MĂ€dchen fĂŒr alles im Haushalt der verwitweten Madame Aubain arbeitet. Von zu Hause war sie weggelaufen wegen einer unglĂŒcklichen Liebe, und kaum in Pont-l’ÉvĂȘque angekommen war sie Madame Aubain in die Arme gelaufen, die gerade eine neue Köchin suchte. FĂ©licitĂ© geht ganz im Dienst fĂŒr diese Familie auf; die Kinder Madame Aubains werden fĂŒr sie wie ihre eigenen Kinder, und als die junge Virginie an einer LungenentzĂŒndung stirbt, beginnt sie einen kleinen Totenkult um sie. Flaubert gelingt es auf knapp 50 Seiten dieses einfache Leben vollstĂ€ndig zu erfassen: FĂ©licitĂ©s Alltag, ihre Arbeit, ihre unverbrĂŒchliche Treue zu ihrer Herrin, ihre naive Frömmigkeit, ihr Kult um die Toten, ihre Liebe nicht zuletzt zu einem Papagei, den sie noch in ausgestopftem Zustand wie eine Reliquie verehrt, alle diese Elemente fĂŒgen sich still und leise zum Lebensbild einer Frau zusammen, die ein schlichtes und dennoch berĂŒhrendes Leben hatte.

ErgĂ€nzt wird das Buch durch »Die Legende von Sankt Julian dem Gastfreien«, eine etwas blutrĂŒnstigen Heiligenlegende, und »Herodias«, eine NacherzĂ€hlung der biblischen Geschichte vom Tod Johannes des TĂ€ufers.

Gustave Flaubert: Drei ErzĂ€hlungen. Aus dem Franz. von E. W. Fischer. Diogenes Taschenbuch 20724. ISBN: 978-3-257-20724-8. Preis: € 7,90.

Irrungen, Wirrungen

Theodor Fontane hat erst spĂ€t in seinem Leben begonnen, Romane zu schreiben. Er war lĂ€ngst ein bekannter Journalist und Theaterkritiker, Lyriker und Reiseschriftsteller als 1878 – Fontane war schon beinahe 60 – mit »Vor dem Sturm« sein etwas umstĂ€ndlich erzĂ€hlter erster Roman erschien. Trotz den kleinen Fehlern seines Erstlings lieferte Fontane von da an beinahe jĂ€hrlich einen neuen, erfolgreichen Roman.

»Irrungen, Wirrungen«, zehn Jahre nach »Vor dem Sturm« erschienen, erzĂ€hlt die Geschichte der Liebe zwischen Baron Botho von RienĂ€cker und dem SchneidermĂ€dchen Lene Nimptsch. Das Thema war damals nicht ungewöhnlich; besonders die Trivialliteratur war voll von solchen Geschichten, die oft nach dem Motto endeten: Amor vincit omnia – die Liebe siegt ĂŒber alles.

Bei Fontane geht es dagegen realistischer zu: Schon ein erster Ausflug nach Hankels Ablage im SĂŒden Berlins macht den beiden Liebenden deutlich, dass es ein großer Unterschied ist, ob sie nur zu zweit sind oder ob sie sich gemeinsam in Gesellschaft bewegen mĂŒssen. Hinzukommt, dass Botho beinahe schon verlobt ist und durch die Mitgift seiner Familie finanziell auf die Beine helfen könnte. So heiratet Botho schließlich vernunft- und standesgemĂ€ĂŸ, und auch Lene findet am Ende einen zu ihr passenden Mann. Doch Botho braucht lange, bis er mit seinen GefĂŒhlen zu Lene abschließen kann …

Der Roman hat bei seinem Erscheinen einen Skandal ausgelöst. Besonders dass Fontane seine beiden Hauptfiguren wĂ€hrend des Ausflugs gemeinsam in einem Zimmer ĂŒbernachten lĂ€sst, fĂŒhrte zu heftigen Reaktionen; sogar als »grĂ€ĂŸliche Hurengeschichte« ist der harmlose, kleine Roman damals beschimpft worden.

Theodor Fontane: Irrungen, Wirrungen. Reclam UB 18741. ISBN: 978-3-15-018741-8. Preis: € 3,60.

Der VerrĂŒckte des Zaren

Jaan Kross (1920–2007) ist noch der bekannteste unter all den unbekannten Schriftstellern Estlands. Es war ausgebildeter Jurist und hat nach dem Zweiten Weltkrieg acht Jahre lang in russischer Verbannung in Sibirien leben mĂŒssen, bevor er 1954 in seine Geburtsstadt Tallinn zurĂŒckkehren durfte. Als Schriftsteller hat er zuerst Gedichte geschrieben, in den 60er Jahren dann Essays und Kurzgeschichten, um schließlich seinen monumentalen Roman »Das Leben des Balthasar RĂŒssow« zu verfassen, an dem er ĂŒber zehn Jahre geschrieben hat.

Die meisten Romane von Jan Kross sind historische Romane, die sich um Personen drehen, die wirklich gelebt haben und fĂŒr die Geschichte Estlands von Bedeutung waren; so auch »Der VerrĂŒckte des Zaren« (1978). ErzĂ€hlt wird darin die Geschichte des deutschbaltischen Adeligen Timotheus Eberhard von Bock (1787–1836), der unter Zar Alexander I. Karriere in der russischen Armee machte. Zwischen 1805 und 1813 nahm er an zahlreichen FeldzĂŒgen teil, zuletzt im Rang eines Oberst, war FlĂŒgeladjutant des Zaren, zu dem er wohl ein freundschaftliches VerhĂ€ltnis hatte.

Kross’ Interesse an ihm beginnt aber erst, als sich von Bock im Jahr 1818, als er inzwischen auf seinem Gut in Estland lebt, mit einer Denkschrift an den Zaren wendet, in der er tiefgreifende Reformationen fordert: Aufhebung des Absolutismus und Abschaffung der Leibeigenschaft. Von Bock wird daraufhin unter der Annahme, er sei verrĂŒckt geworden, verhaftet und fĂŒr neun Jahre in Festungshaft gebracht. Nachdem er 1827 in einen Hausarrest auf seinen GĂŒtern entlassen wird, plant er seine Flucht aus Estland …

Jaan Kross: Der VerrĂŒckte des Zaren. Aus dem Estnischen von Helga Viira. dtv Taschenbuch 20655. ISBN: 978-3-423-20655-6. Preis: € 11,90.

Balzac

HonorĂ© de Balzac (1799–1850), Schöpfer des riesigen ErzĂ€hlzyklus der »Menschlichen Komödie«, hat ein unglaublich spannendes und bewegtes Leben gefĂŒhrt. Stets musste er sich mit seinen wachsenden Schulden und seinen GlĂ€ubigern herumschlagen, was ihn allerdings nicht davon abhielt, seinen luxuriösen Lebensstil fortzufĂŒhren, ja den Luxus entgegen besserer Einsicht noch weiter zu steigern. Rettung erhoffte sich Balzac immer erneut durch irgendwelche wundersamen GeschĂ€ftsgewinne – alle Versuche in dieser Richtung endeten bereits nach kurzer Zeit im nĂ€chsten finanziellen Desaster – oder durch eine vorteilhafte reiche Heirat, die ihn auf einen Schlag von allen Sorgen befreien sollte. Mehr der Not als der Neigung gehorchend sah er sich gezwungen, sich auf sein einziges wirkliches Talent, das Schreiben, zu stĂŒtzen, um wenigstens den dringendsten Luxus finanzieren zu können. Besonders von strohgelben GlacĂ©handschuhen musste Balzac jederzeit ein oder zwei Dutzend Paar zur VerfĂŒgung haben, um sich wohl zu fĂŒhlen.

Johannes Willms Biographie Balzacs nimmt sich ĂŒber Strecken wie eine Sammlung von Klatsch und Tratsch aus. Doch wie schon fĂŒr seinen »Napoleon« wertete Willms umfangreich Briefzeugnisse aus, um ein möglichst genaues und persönliches Bild zu zeichnen. Dabei weicht er den unvorteilhaften ZĂŒgen Balzacs nicht aus: nicht dem schwierigen VerhĂ€ltnis zur Mutter, nicht seiner rĂŒcksichtslosen Ausnutzung anderer Menschen, nicht seiner Verlogenheit sich und anderen gegenĂŒber, nicht seiner Neigung, die Verantwortung fĂŒr seine Misere auf andere zu schieben. Eine interessante und exzellent geschriebene Biografie.

Johannes Willms: Balzac. ZĂŒrich: Diogenes, 2007. ISBN: 978-3-257-06624-1. Preis: € 24,90. Dieser Titel kann in der Stadtbibliothek Solingen ĂŒber die Bergisch-Bib entliehen werden.

Madame Bovary

Mit Gustave Flauberts (1821–1880) Romans »Madame Bovary« beginnt die Geschichte des modernen Romans. Bereits der gekĂŒrzte Vorabdruck in der »Revue de Paris« im Jahr 1856 löste einen Literaturskandal aus, als man versuchte, das Buch gerichtlich verbieten zu lassen, da man in ihm einen Verstoß gegen die guten Sitten und die öffentliche Moral sah. Das Gericht folgte zwar den VorwĂŒrfen des Staatsanwaltes nicht und sprach den Autor und den Herausgeber der Zeitschrift frei, aber natĂŒrlich sicherte der spektakulĂ€re Prozess der ungekĂŒrzten Buchausgabe einen grandiosen Erfolg. Flaubert schrieb dazu am 1. Januar 1857 an seinen Bruder Achille:

Ich werde der Löwe der Woche werden, alle Weibsbilder von Rang reißen sich die Bovary aus den HĂ€nden, um ObszönitĂ€ten darin zu suchen, die sie nicht enthĂ€lt.

TatsĂ€chlich ist das Buch fĂŒr den heutigen Geschmack weniger moralisch anstoßend als in seiner unbarmherzigen Konsequenz erschreckend. ErzĂ€hlt wird die Ehegeschichte von Charles und Emma Bovary, einem Arztehepaar, das in der Normandie lebt. Emma ist ein junges, in der Welt wenig erfahrenes MĂ€dchen, deren Vorstellungen vom Leben in der Hauptsache aus gefĂŒhlvollen Romanen stammen. Doch das Leben mit ihrem braven und provinziellen Ehemann erfĂŒllt keine ihrer Erwartungen, und so lĂ€sst sie sich aus Langeweile und EnttĂ€uschung auf verschiedene AffĂ€ren ein. Auch macht sie aus Gefallsucht gedankenlos immer mehr Schulden, so dass sich ihre Situation schon bald ausweglos zuspitzt …

Ich empfehle, diesen Klassiker in der brillanten Komplettlesung Gert Westphals anzuhören.

Gustave Flaubert: Madame Bovary. UngekĂŒrzte Lesung von Gert Westphal. Berlin: Universal / Deutsche Grammophon, 2005. 11 CDs mit zus. etwa 810 Minuten Laufzeit. Preis: ca. 42,– €.

Das GlĂŒck der anderen

Jacob Hansen lebt gegen Ende des 19. Jahrhunderts im StĂ€dtchen Friendship im nordamerikanischen Westen. Er ist verheiratet und hat eine kleine Tochter. In der Gemeinde hat er gleich mehrere Funktionen: Er ist Sheriff, zugleich Bestattungsunternehmer und TotengrĂ€ber und zudem noch Prediger. Eines Tages wird er zu einem Leichenfund im Wald gerufen, und als er die Leiche in die Stadt bringt, findet er unterwegs auch noch eine desorientierte Frau. Er bringt beide zum Arzt von Friendship, dem rasch klar ist, dass sowohl der Tote als auch die Frau mit Diphtherie infiziert sind. Zu dieser Zeit gab es noch kein Mittel gegen die Erkrankung, und eine Infektion bedeutete in aller Regel ein Todesurteil. Als sei dies allein nicht schlimm genug, ist das kleine StĂ€dtchen auch noch durch einen Großbrand gefĂ€hrdet, der sich aufgrund eines langen, trockenen Sommers unaufhaltsam ausbreitet.

Jacob Hansen ist ein pflichtbewusster Mann, dem der sorgfĂ€ltige und respektvolle Umgang mit den Toten am Herzen liegt. Die Einwohner von Friendship halten ihn zwar fĂŒr ein wenig verschroben, aber sie respektieren ihn. Doch kurz nach Ausbruch der Epidemie erkranken kurz nacheinander Hansens Tochter und Frau …

Stewart O’Nan hat mit »Das GlĂŒck der anderen« ein ruhiges und eindringliches PortrĂ€t eines EinzelgĂ€ngers geschaffen, der unter schwierigsten UmstĂ€nden weiterhin seinen Glauben behĂ€lt und seinen Pflichten nachkommt. Das Buch ist durchgehend in der sehr seltenen Du-Form geschrieben, was eine interessante Spannung von NĂ€he und Distanz zum Geschehen erzeugt. Ein gelungenes literarisches Experiment.

Stewart O’Nan: Das GlĂŒck der anderen. Aus dem Amerikanischen v. Thomas Gunkel. rororo 23430. ISBN: 978-3-499-23430-9.

Die Morde in der Rue Morgue

Am 19. Januar vor 200 Jahren wurde in Boston einer der großen amerikanischen Schriftsteller geboren: Edgar Allan Poe gilt heute zu Recht als Meister des Grusel- und Horror-Genres. Aber nicht nur auf diesem Gebiet hat er sich unsterblichen Ruhm erworben, er ist auch der Erfinder einer literarischen Figur, die in unzĂ€hlbaren Variationen in Literatur und Film Karriere gemacht hat: des analytische Detektivs.

In seiner 1841 erschienenen ErzĂ€hlung »Die Morde in der Rue Morgue« berichtet der ErzĂ€hler von einer Begegnung mit einem außergewöhnlichen Mann: C. Auguste Dupin entstammt einer berĂŒhmten, aber verarmten Pariser Familie und lebt ein zurĂŒckgezogenes Leben. Er ist sehr belesen und zeichnet sich nicht nur durch eine ungewöhnlich feine Beobachtungsgabe aus, sondern auch durch die FĂ€higkeit, aus winzigen, unscheinbaren Details rasch und sicher SchlĂŒsse zu ziehen. Als Dupin eines Tages in der Zeitung von einem Doppelmord liest, der die Polizei vor ein RĂ€tsel stellt, bewĂ€hren sich seine Gaben. Die Morde an zwei Frauen, Mutter und Tochter, waren auf bestialische Weise in einem von innen verschlossenen Zimmer begangen worden. Auf den ersten Blick scheint es dem Mörder unmöglich gewesen zu sein, nach der Tat aus dem Zimmer zu entkommen, und dennoch fehlt von ihm jede Spur. An diesem RĂ€tsel stellt Dupin nun seinen außergewöhnlichen analytischen Verstand unter Beweis. Allein aufgrund der LektĂŒre einiger Zeitungsmeldungen und einer Besichtigung des Tatorts ist er in der Lage, den TĂ€ter zu ermitteln. C. Auguste Dupin und sein englischer Nachfolger Sherlock Holmes sind die UrvĂ€ter aller Detektive des 20. und 21. Jahrhunderts.

Edgar Allan Poe: Detektivgeschichten. dtv 13725. ISBN: 978-3-423-13725-6.