Der Namensvetter

Als die frischgebackenen Eltern Ashima und Ashoke Ganguli ihren erstgeborenen Sohn aus dem Krankenhaus mit nach Hause nehmen wollen, ergibt sich ein kleines Problem: Nach US-amerikanischem Recht darf ein Kind nur mit einen gültigen Geburtsschein entlassen werden, und auf den gehört nun einmal ein Vorname. Aber die Gangulis warten seit Wochen auf einen Brief von Ashimas Großmutter, in dem der Name für den neuen Erdenbürger stehen soll. In ihrer Not beschließen sie, ihren Sohn vorläufig zu benennen, und als der Arzt vorschlägt, doch den Namen eines bewunderten Vorbildes zu nehmen, wählt Ashoke den Namen seines Lieblingsschriftstellers: Gogol.

Es ist nicht nur dieser Namen, der dafür sorgt, dass Gogols Kindheit und Jugend nicht die glücklichsten sind. Seine Eltern sind aus Kalkutta eingewanderte Bengalen, die versuchen, möglichst viel ihrer mitgebrachten Kultur in den USA beizubehalten. Sie haben nahezu ausschließlich bengalische Freunde, feiern bengalische Feste, kochen bengalische Mahlzeiten usw. usf. Gogol und seine jüngere Schwester Sonia dagegen wachsen immer mehr in die US-amerikanische Gesellschaft hinein, je älter sie werden. Gogol wird seinen Eltern und deren Kultur immer fremder, bis eines Tages unvorhergesehen sein Vater Ashoke stirbt …

Jhumpa Lahiri (geb. 1967) ist eine amerikanische Autorin bengalischer Herkunft. Sie hat im Jahr 2000 mit ihrem ersten Buch »Melancholie der Ankunft« sogleich den renommierten Pulitzer-Preis gewonnen. Ihr erster Roman »Der Namensvetter« verarbeitet die persönlichen Erfahrungen zahlreicher bengalischer Einwanderer zu einer amüsanten und bewegenden Erzählung.

Jhumpa Lahiri: Der Namensvetter. Aus dem Amerikanischen v. Barbara Heller. btb Bd. 73638. ISBN: 978-3-442-73638-6.

Blindband

John Ryder ist ein junger Mann, der seine nervenaufreibende Arbeit als Börsenmakler hinter sich lassen will und deshalb eine ganz andere Tätigkeit sucht. Daher bewirbt er sich auf eine Anzeige des berühmten Schriftstellers Paul Reader, der einen Assistenten sucht. Als er in dem entlegenen Haus des Schriftstellers ankommt, erwartet ihn eine Überraschung: Paul Reader hat bei einem Unfall vor vier Jahren nicht nur entstellende Verbrennungen erlitten, sondern auch beide Augen verloren. Deshalb ist in den letzten Jahren auch kein Buch mehr von ihm erschienen. Aber nun hat er sich entschlossen, noch ein einziges weiteres Buch zu schreiben; es soll ein autobiografischer Roman werden, aber er braucht jemanden, dem er das Buch diktieren kann.

John Ryder erweist sich gleich beim ersten Gespräch als guter Kandidat; da er außerdem bereit ist, an fünf Tagen der Woche im Haus des Autors zu wohnen, versuchen es die beiden mit der Zusammenarbeit. Ryder macht sich schon bald nützlich: Er beschafft einen Laptop, tippt geduldig nach Diktat, kocht, wenn die Haushälterin ausfällt und hält den oft missgelaunten Schriftsteller bei Stimmung. Doch recht bald wird dem Leser klar, dass John Ryder mehr mit diesem Schriftsteller verbindet, als seine anscheinend harmlose Tätigkeit …

Gilbert Adair hat mit »Blindband« einen inhaltlich eher konventionellen Krimi geschrieben, dessen Reiz in der Hauptsache darin besteht, dass er nahezu ausschließlich als Dialog zwischen den beiden Hauptfiguren erzählt wird. So gerät der Leser von Beginn an in eine ganz ähnliche Situation wie der blinde Schriftsteller: Auch ihm fehlt der Überblick, und er muss ganz dem vertrauen, was er zu hören bekommt.

Gilbert Adair: Blindband. München: C.H. Beck, 2008. ISBN: 978-3-406-57225-8.

Deutsche Geschichte

Vor gut einem Jahr habe ich an dieser Stelle Herbert Rosendorfer, der diesen Monat seinen 75. Geburtstag gefeiert hat, als Romanautor vorgestellt. Von Hause aus Jurist hat sich Rosendorfer neben seiner Tätigkeit als Amtsrichter in München immer fleißig der Literatur gewidmet und so mit den Jahren ein umfangreiches erzählerisches Werk geschaffen. Nach seiner Pensionierung aber hat er sich einem großen Sachbuch-Projekt gewidmet: einer »Deutschen Geschichte«, geschrieben von einem Laien für Laien.

Derzeit liegen fünf Bände mit zusammen über 1.300 Seiten vor, die die deutsche Geschichte von ihren Anfängen bis ins 18. Jahrhundert hinein verfolgen. In seiner Darstellung betont Rosendorfer immer wieder, dass es ihm darum geht, die deutsche Geschichte zu »erzählen«, nicht wissenschaftlich aufzubreiten. Selbstverständlich bemüht er sich um die Korrektheit aller Fakten, aber er setzt überall seine eigenen Akzente, besteht auf seiner ganz individuellen Perspektive und bedient sich aller Mittel, seinen Stoff interessant und lebendig zu gestalten.

Dabei thematisiert er nicht nur Geschichte im engeren Sinne, sondern gibt zu jeder Epoche auch einen Überblick über die kulturelle Entwicklung, den Stand von Kunst und Wissenschaften und thematisiert von Anfang an immer auch das Schicksal der »kleinen Leute«, für die Leben in »historischer Zeit« zumeist Not, Elend und Leiden bedeutete.

Herbert Rosendorfers »Deutsche Geschichte« ist sowohl dem Umfang als auch der Lesbarkeit nach ganz einmalig in der deutschsprachigen Bücherlandschaft. Alle Bände liegen inzwischen mit leicht abgewandelter Aufteilung auch als Hörbücher vor.

Herbert Rosendorfer: Deutsche Geschichte. Dtv Taschenbücher, 5. Bde.

Holzfällen

Am 12. Februar vor 20 Jahren ist einer der einflussreichsten deutschsprachigen Autoren des 20. Jahrhunderts im Alter von nur 58 Jahren verstorben: Thomas Bernhard. Berühmt (und berüchtigt) ist er als Theaterautor geworden, der besonders in seiner langjährigen Zusammenarbeit mit dem Theaterregisseur und Chef des Wiener Burgtheaters Claus Peymann für manch außergewöhnlichen Theaterabend, aber auch für den einen oder anderen Skandal verantwortlich war. In seinem Testament verbot er schließlich die Aufführung seiner Stücke in Österreich, ein Verbot, das inzwischen von seinem Universalerben aufgehoben worden ist.

Wirklich einflussreich war Bernhard jedoch als Erzähler: Ohne dass sich von einer Bernhard-Schule sprechen ließe, kann man doch feststellen, dass eine bedeutende Anzahl junger Schriftsteller an Bernhards Prosa viel gelernt haben. Einige haben später zu einem eigenen Ton gefunden, andere sind im Epigonentum untergegangen.

Eine der bekanntesten Erzählungen Bernhards dürfte »Holzfällen« sein, das 1984 mit dem Untertitel »Eine Erregung« erschienen ist. Das Buch, das aus einem langen Monolog des Ich-Erzählers besteht, der eine kulturelle Abendgesellschaft bei einem Komponisten-Ehepaar durchleidet, sich aber erst spät entschließen kann zu gehen, hat bei seinem Erscheinen einen erheblichen Aufruhr ausgelöst, denn der mit Bernhard bekannte österreichische Komponist Gerhard Lampersberg sah sich und seine Frau in dem Buch boshaft karikiert. Zu dem drohenden Verbot des Buches ist es dann zum Glück nicht gekommen, und so ist uns Lesern diese herrliche, raunzende Erregung eines wirklichen Individualisten erhalten geblieben.

Thomas Bernhard: Holzfällen. Suhrkamp Taschenbuch 1523. ISBN: 978-3-518-38023-9.

Lauter Lyrik

Vor einiger Zeit habe ich an dieser Stelle eine neue Lyrik-Anthologie des Reclam Verlages vorgestellt. Heute möchte ich dies um den Hinweis auf ein Hörbuch ergänzen, das die derzeit umfangreichste Sammlung vorgelesener Lyrik enthält.

Grundlage bildet eine vor mehr als 30 Jahren zum ersten Mal erschienene umfangreiche Lyriksammlung des Kölner Germanisten Karl Otto Conrady, die in der aktuellen Ausgabe einfach »Der große Conrady« heißt. Aus dieser Sammlung hat Conrady noch einmal beinahe 1100 Gedichte ausgewählt, die von 14 Schauspielern und professionellen Sprechern zwischen August und Dezember 2007 eingelesen wurden. Diese Auswahl ist chronologisch angeordnet und reicht vom Mittelalter bis ins 21. Jahrhundert (das letzte Gedicht stammt aus dem Jahr 2007), umfasst also alle Epochen deutscher Gedichte und präsentiert alle bedeutenden Lyriker zumindest mit jeweils einem Beispiel. Natürlich sind auch zahlreiche Autoren mit einer ganzen Reihe ihrer Werke vertreten, und der Anteil moderner Lyrik aller Richtungen ist erheblich.

All dies wurde auf 21 CDs gepresst, wobei die 21. einige der Lieblingsgedichte des Herausgebers, von ihm selbst gelesen, bringt. Auch an die Freunde neuer Technik wurde gedacht: Zusätzlich finden sich zwei mp3-CDs mit allen Gedichten. Ein Begleitheft enthält die Lebensdaten aller Autoren und ein Register der Überschriften und Gedichtanfänge.

Parallel sind die eingespielten Texte quasi als Partitur zum Hörgenuss auch im Druck erschienen. Das Buch ist unter dem Titel »Lauter Lyrik. Der kleine Conrady« für 22,– € im Buchhandel zu erwerben.

»Lauter Lyrik. Der Hör-Conrady«. Ein Gemeinschaftsprojekt der ARD und des Patmos Verlags. Düsseldorf: Patmos Verlag, 2008. 21 CDs u. 2 mp3-CDs, etwa 25 Stunden Gesamtspielzeit.

Die Morde in der Rue Morgue

Am 19. Januar vor 200 Jahren wurde in Boston einer der großen amerikanischen Schriftsteller geboren: Edgar Allan Poe gilt heute zu Recht als Meister des Grusel- und Horror-Genres. Aber nicht nur auf diesem Gebiet hat er sich unsterblichen Ruhm erworben, er ist auch der Erfinder einer literarischen Figur, die in unzählbaren Variationen in Literatur und Film Karriere gemacht hat: des analytische Detektivs.

In seiner 1841 erschienenen Erzählung »Die Morde in der Rue Morgue« berichtet der Erzähler von einer Begegnung mit einem außergewöhnlichen Mann: C. Auguste Dupin entstammt einer berühmten, aber verarmten Pariser Familie und lebt ein zurückgezogenes Leben. Er ist sehr belesen und zeichnet sich nicht nur durch eine ungewöhnlich feine Beobachtungsgabe aus, sondern auch durch die Fähigkeit, aus winzigen, unscheinbaren Details rasch und sicher Schlüsse zu ziehen. Als Dupin eines Tages in der Zeitung von einem Doppelmord liest, der die Polizei vor ein Rätsel stellt, bewähren sich seine Gaben. Die Morde an zwei Frauen, Mutter und Tochter, waren auf bestialische Weise in einem von innen verschlossenen Zimmer begangen worden. Auf den ersten Blick scheint es dem Mörder unmöglich gewesen zu sein, nach der Tat aus dem Zimmer zu entkommen, und dennoch fehlt von ihm jede Spur. An diesem Rätsel stellt Dupin nun seinen außergewöhnlichen analytischen Verstand unter Beweis. Allein aufgrund der Lektüre einiger Zeitungsmeldungen und einer Besichtigung des Tatorts ist er in der Lage, den Täter zu ermitteln. C. Auguste Dupin und sein englischer Nachfolger Sherlock Holmes sind die Urväter aller Detektive des 20. und 21. Jahrhunderts.

Edgar Allan Poe: Detektivgeschichten. dtv 13725. ISBN: 978-3-423-13725-6.

Über beinahe alles

Wir leben in einer sich ständig und immer schneller verändernden Welt. Das liegt nicht nur daran, dass ständig neue Erfindungen gemacht und neue Produkte auf den Markt geworfen werden, sondern auch daran, dass sich das wissenschaftliche Bild unserer Welt ununterbrochen fortentwickelt und wandelt. Wie vieles, von dem, was wir mühsam in der Schule gelernt haben, ist inzwischen längst veraltet und überholt? Und wer hat schon Zeit sich aus den unterschiedlichsten Quellen auf dem Laufenden zu halten?

Aber es ist schön, dass es einem nicht allein so geht: Dem US-amerikanischen Journalisten und Schriftsteller Bill Bryson, der als Verfasser von Reisebüchern bekannt geworden ist, wurde eines Tages bewusst, dass sein wissenschaftliches Weltbild bestenfalls als lückenhaft zu bezeichnen sei. Und so machte er sich auf, das zu ändern: Er las alle erreichbaren populärwissenschaftlichen Bücher, machte sich auf, um Wissenschaftler, Forscher und Entdecker in allen Teilen der Welt zu besuchen und zu befragen und schrieb schließlich »Eine kurze Geschichte von fast allem«. Diese mehr als 600 Seiten starke Darstellung des aktuellen naturwissenschaftlichen Weltbilds – Schwerpunkte liegen auf der Astronomie, Geologie, Biologie und Physik – ist von einem Laien für Laien geschrieben und das lesbarste und umfassendste allgemeinbildende Buch, das ich seit vielen Jahren in die Hände bekommen habe. Was es so faszinierend macht, ist, dass nicht nur erzählt wird, was alles wir schon wissen, sondern gleichrangig daneben auch, was alles wir noch nicht wissen, und wie eine beantwortete Frage gleich dutzendweise neue, unbeantwortete hervorbringt. Ein hoch spannendes Lesebuch!

Bill Bryson: Eine kurze Geschichte von fast allem. Goldmann Taschenbuch 46071. ISBN: 978-3-442-46071-7. Preis: € 9,95.

Die Jüdin von Toledo

Vor 50 Jahren, am 21. Dezember 1958, starb in Los Angeles, im amerikanischen Exil, der deutsche Schriftsteller Lion Feuchtwanger. Zu seinen Lebzeiten gehörte er zu den meistgelesenen deutschen Schriftstellern sowohl in den USA als auch in Russland. Als Jude war er Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung und lebte von 1932 an im Ausland, nach abenteuerlicher Flucht aus Europa ab 1941 in den USA. Neben einigen bedeutenden Zeitromanen lag sein schriftstellerisches Hauptgewicht auf den historischen Romanen.

»Die Jüdin von Toledo« (1955) handelt zur Zeit des Hochmittelalters im zum Teil moslemisch besetzten Spanien. Im Zentrum steht die legendenhafte Affäre des kastilischen Königs Alfonso VIII. mit einer Jüdin, im Volksmund »La Fermosa«, die Schöne, genannt. Dieses Thema ist bereits seit dem 16. Jahrhundert in Balladen, Theaterstücken und Erzählungen ausgiebig behandelt worden. Das Verdienst von Feuchtwangers Bearbeitung des Stoffes ist es, die tragische Liebesgeschichte in einen konkreten historischen Rahmen einzustellen. Sein Alfons VIII. verliebt sich in die Tochter seines jüdischen Ministers und Finanzberaters Jehuda Ibn Esra. Der willigt in diese Affäre ein, weil er glaubt, den König so besser vom verderblichen Kriegshandwerk abhalten zu können. Doch als sich der König in seine Liebe zur Fermosa verliert, wächst die Eifersucht seiner Frau, Eleonora, Tochter des englischen Königs Heinrich II. Sie beginnt nun alle Hebel in Bewegung zu setzten, um ihren Mann in einen erneuten Krieg gegen die Mauren zu stürzen, in der Hoffnung, dass er auf dem Schlachtfeld seine schöne Jüdin vergessen werde.

Lion Feuchtwanger: Die Jüdin von Toledo. Aufbau Taschenbuch 5638. ISBN: 978-3-7466-5638-0. Preis: € 9,95.

Verbrannte Bücher

In der Nacht vom 10. auf den 11. Mai 1933 findet auf dem Berliner Opernplatz ein großes Propaganda-Spektakel der neuen, nationalsozialistischen Regierung statt: Hier – und zeitgleich in 21 weiteren Hochschulstädten – werden öffentlich Bücher von Autoren verbrannt, die dem Regime nicht ins Weltbild passen, weil sie Juden sind oder politisch links stehen, weil sie Kriegsgegner sind, weil es ihnen an nationaler Gesinnung gebricht oder auch nur, weil jemand irgendeines ihrer Bücher für »undeutsch« gehalten hat. Die Aktion war von der »Deutschen Studentenschaft« organisiert worden, wurde aber vom Propagandaministerium direkt unterstützt; in Berlin hielt gegen Mitternacht Propagandaminister Joseph Goebbels selbst eine Brandrede.

Viele der Autoren, deren Bücher damals verbrannt wurden, sind heute praktisch vergessen. Ihre Bücher wurden nach dem Krieg nicht mehr aufgelegt, ihre Karriere als Schriftsteller war zerstört. Volker Weidermann, Literaturkritiker und Feuilletonchef der »Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung« hat sich die Mühe gemacht, der ersten Liste verbrannter Bücher nachzuforschen. Er hat versucht, das Schicksal aller 131 Autoren, die auf dieser ersten Verbotsliste des Dritten Reichs standen, zu ermitteln, die verbrannten Bücher aufzufinden und zu lesen. Nicht in allen Fällen ist das gelungen: Manche der Schriftsteller sind während oder nach dem Krieg einfach verschwunden, ohne eine greifbare Spur zu hinterlassen. Mit dieser besonderen Literaturgeschichte wird zum ersten Mal die ganze Breite der Opfer der nationalsozialistischen Bücherverbrennung dargestellt und gewürdigt.

Volker Weidermann: Das Buch der verbrannten Bücher! Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2008. ISBN: 978-3-462-03962-7.

Handorakel

Heute vor 350 Jahren starb im Jesuitenkolleg von Tarazon, einem kleinen Städtchen im Nordwesten von Aragon, mit nur knapp 58 Jahre der Jesuitenpater Baltasar Gracián. Er hatte in seinen letzten Lebensjahren nicht viel Ruhe gehabt: Seine satirischen Schriften und besonders auch sein großer, allegorischer Roman »Das Kritikon« hatten ihm viele Feinde eingebracht. Zu Anfang des 17. Jahrhunderts geboren, war er mit 18 Jahren dem Jesuitenorden beigetreten und hatte sich schon bald einen Namen als Prediger, Lehrer und Redner gemacht und wirkte in Zaragoza, Tarragona, Valencia und Madrid.

Die allermeisten von Graciáns Schriften sind heute eine Sache für Spezialisten. Selbst das Hauptwerk »Das Kritikon«, das 2001 noch einmal vollständig neu ins Deutsche übersetzt wurde, dürfte nur noch wenige Leser finden. Aber ein Werk hat die Zeitläufte unbeschadet überstanden und fasziniert heute noch so wie zu Lebzeiten des Autors: das »Handorakel«. Dieses schmale Bändchen ist eine Sammlung von 300 kurzen Abschnitten, die alle die Lebens- und Weltklugheit zum Thema haben. Graciáns Ratschläge für ein gutes Leben mögen im Einzelnen nicht wirklich überraschen, aber in ihrer Gesamtheit bilden sie so etwas wie ein ideales Porträt des Menschen in Gesellschaft.

In Deutschland hatte das Büchlein das Glück von einem großen Philosophen und Stilisten – eine Kombination, die nicht häufig ist – übersetzt zu werden: Arthur Schopenhauer war ein großer Freund Graciáns und hat das Handorakel 1832 so sorgfältig in Deutsche übersetzt, dass seine Übertragung bis heute gültig geblieben ist.

Baltasar Gracián: Handorakel und Kunst der Weltklugheit. Aus dem Spanischen von Arthur Schopenhauer. dtv Taschenbuch 34244. ISBN: 978-3-423-34244-5. Preis: € 6,00.