Der Geliebte der Mutter

Erzählt wird die Geschichte Clara Molinaris, einer jungen Frau aus reichem Hause, deren Vater am Schwarzen Freitag 1929 sein gesamtes Vermögen verliert und vom Schlag getroffen stirbt. Clara steht nach diesem Tod allein vor dem Nichts. Sie hat nur einen Lebensinhalt: Sie ist Sekretärin und Guter Geist eines jungen Orchesters, in dessen Dirigenten sie ebenso heimlich wie leidenschaftlich verliebt ist. Der allerdings kümmert sich wenig um das Mädchen, nimmt die sich anbietende Affäre zwar so nebenbei mit, verschwendet aber weiter keinen Gedanken an Clara. Stattdessen heiratet er die Tochter des Besitzers der Maschinenfabrik und wird einer der reichsten Männer der Stadt. Auch seine Karriere als Musiker verfolgt er zielstrebig, und bald ist er nicht nur ein erfolgreicher Geschäftsmann, sondern auch ein gesuchter und geschätzter Künstler.

Clara heiratet enttäuscht den ersten besten Mann, bekommt mit ihm ein Kind (den Erzähler des Buches) und verfällt zugleich einer immer schwärzer werdenden Depression. Weder ihre Ehe noch ihr Kind können sie aus ihrer emotionalen Bindung an den geliebten Dirigenten lösen. Jahrelang lebt sie mit Selbstmordgedanken und ihre psychische Krise steigert sich soweit, dass sie schließlich in eine Klinik eingewiesen werden muss …

Urs Widmer hat mit diesem kleinen Buch entlang von wirklichen Ereignissen und Erlebnissen, seiner eigenen Mutter und ihrer Liebe zu dem Dirigenten Paul Sacher ein janusköpfiges Denkmal gesetzt. Vier Jahre später hat er es um ein Buch über seinen Vater ergänzt, das ich in der nächsten Woche hier vorstellen werde.

Urs Widmer: Der Geliebte der Mutter. detebe 23347. ISBN: 978-3-257-23347-6. Preis: € 8,90.

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Der Zögling Törleß

Robert Musil (1880-1942), der durch seinen unvollendeten Roman »Der Mann ohne Eigenschaften« weltbekannt wurde, begann seine schriftstellerische Laufbahn 1906 mit dem kleinen Roman »Die Verwirrungen des Zöglings Törleß«. Das Buch spielt in einem Internat in der österreichischen Provinz. Schon die ersten Sätze des Buches machen klar, dass man hier am Ende der Welt angekommen ist:

Eine kleine Station an der Strecke, welche nach Rußland führt. Endlos gerade liefen vier parallele Eisenstränge nach beiden Seiten zwischen dem gelben Kies des breiten Fahrdammes …

Im Zentrum des Romans steht der 16-jährige Schüler Törleß, der durch eher zufällige Umstände in eine ihn zugleich faszinierende und bedrängende Lage gerät. Sein Mitschüler Basini ist von zwei andere Mitschülern, Reiting und Beineberg, beim Stehlen ertappt worden. Basini, dem bei Bekanntwerden des Diebstahls ein Schulverweis droht, lässt sich darauf ein, Reiting und Beineberg als »Diener« zur Verfügung zu stehen. Er sieht sich nun den Erniedrigungen durch seine Entdecker ausgesetzt, die deutlich sexuell motiviert sind und im Laufe der Zeit immer mehr an Grausamkeit zunehmen.

Törleß nimmt an diesen Quälereien selbst nicht aktiv teil, sondern erlebt sie als Zuschauer, der sich weder das Verhalten Basinis erklären kann, noch die Faszination begreift, die das ganze auf ihn selbst ausübt. Er ist auf diese Verwirrung seiner Gefühle nicht vorbereitet, findet keine Worte, die ihm helfen würden das Geschehen einzuordnen.

Der bekannte Schauspieler Ulrich Tukur hat im Hörverlag eine einfühlsame und nuancierte Lesung dieses kleinen psychologischen Meisterwerks vorgelegt.

Robert Musil: Die Verwirrungen des Zöglings Törleß. Gelesen von Ulrich Tukur. München: Der Hörverlag, 2005. 5 CDs mit zusammen ca. 350 Minuten Laufzeit. Ca. € 25,00.

Stranger Than Fiction

Harold Crick (Will Ferrell) ist Steuerprüfer der US-amerikanischen Steuerbehörde IRS. Er lebt ein durch und durch geregeltes und gänzlich unauffälliges Leben. Jeder Tag gleicht dem anderen: Nach dem Aufstehen zählt Harold im Bad, wie oft er seine Zahnbürste auf und ab bewegt, bindet einen zeitsparenden Krawattenknoten und geht eine genau abgezählte Anzahl von Schritten zur Bushaltestelle. Im Büro multipliziert er für seine Kollegen dreistellige Zahlen im Kopf und ist auch sonst der langweiligste Mensch, den man sich vorstellen kann.

Karen Eiffel (Emma Thompson) ist Schriftstellerin und hat gerade große Schwierigkeiten mit ihrem neuen Buch: Sie kann einfach keinen richtigen Weg finden, ihren Helden sterben zu lassen.

Karen Eiffel schreibt einen Roman über Harold Crick! Weder weiß Karen, dass Harold tatsächlich existiert, noch hat Harold auch nur die geringste Ahnung von der Existenz der Schriftstellerin Karen. Doch eines Morgens hört Harold in seinem Kopf eine Stimme, die sein Leben erzählt. Zuerst ist Harold nur leicht verwirrt, aber dann gerät zusehends sein Alltag durcheinander: Er kann sich nicht mehr konzentrieren, macht Fehler beim Kopfrechnen, ja, er verliebt sich sogar. Doch als die Stimme in seinem Kopf seinen unmittelbar bevorstehenden Tod ankündigt, spitzt sich die Lage dramatisch zu. Harold macht sich auf die Suche nach der Erzählerin seines Lebens …

Regisseur Marc Forster (»Drachenläufer«) ist es gelungen, aus einer völlig skurrilen Ausgangssituation heraus eine amüsante und bewegenden Komödie zu entwickeln.

»Schräger als Fiktion«. USA, 2006. DVD, Sony. Länge: ca. 108 Minuten. Sprachen: Deutsch u. Englisch. Extras: 2 Audio-Kommentare, zahlreiche Dokumentationen, Deleted Scenes. Preis: ca. € 10,-.

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Der Ruinenbaumeister

Herbert Rosendorfer, geb. 1934, ist einer der produktivsten deutschsprachigen Schriftsteller der Nachkriegszeit und das, obwohl er im Hauptberuf Jurist war und bis zu seiner Pensionierung 1997 als Amtsrichter in München und zuletzt in Naumburg tätig gewesen ist. Bereits 1969, noch als Gerichtsassessor in Bayreuth, veröffentlichte er seine ersten Bücher: Einen satirischen Stadtführer »Bayreuth für Anfänger«, den er unter Pseudonym erscheinen ließ, da er befürchtete in der Provinzstadt Bayreuth sonst einigen Anfeindungen ausgesetzt zu sein, und seinen ersten Roman »Der Ruinenbaumeister«. Seitdem erschienen mit großer Regelmäßigkeit Romane, Erzählungen und Sachbücher, aber auch einige Theaterstücke und Drehbücher für das deutsche Fernsehen. Seinen größten Erfolg dürfte er 1985 gehabt haben, als die Erzählung »Briefe in die chinesische Vergangenheit« sich zu seinem besten Verkaufserfolg entwickelte. Derzeit schreibt Herbert Rosendorfer an einer umfangreichen deutschen Geschichte, einer historischen Erzählung von einem Laien für Laien, von der bislang fünf Bände vorliegen.

»Der Ruinenbaumeister« nennt sich zwar Roman, ist im Wesentlichen aber eine Sammlung humorvoller, phantastischer und skurriler Erzählungen, die auf vielfältige und sonderbare Weise miteinander verknüpft und ineinander verwoben sind. Die Rahmenhandlung bildet eine Traumwelt, in der eine Gruppe von Menschen vor dem Weltuntergang in eine sonderbare Konstruktion, Zigarre genannte, fliehen muss. Dort verbringen sie scheinbar sorglos ihre Zeit damit, sich gegenseitig Geschichten und Träume zu erzählen. Ein phantasievolles Leseabenteuer, wie man es sonst nur selten findet.

Herbert Rosendorfer: Der Ruinenbaumeister. dtv 11391. ISBN: 978-3-423-11391-5. Preis: € 10,-.

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Napoleon I.

Wenn man sich fragt, welche Einzelperson den größten Einfluss auf das Europa des 19. Jahrhunderts gehabt hat, so gehört Napoleon Bonaparte ganz sicherlich zu den ersten Kandidaten. Sohn einer alteingesessenen korsischen Familie, wird Napoleon für den Militärdienst bestimmt und durchläuft bis 1785 erfolgreich die Ausbildung für Offiziere. 1789 bricht die französische Revolution aus, die die gesellschaftlichen Verhältnisse Frankreichs von unten nach oben kehrt. Ab 1793 beginnt dann Napoleons Aufstieg zur Macht: Nach der Rückeroberung von Toulon wird er Brigadegeneral, 1795 beweist er bei der Niederschlagung eines royalistischen Aufstands »republikanische Gesinnung« und wird 1796 Oberbefehlshaber der sogenannten Italienarmee Frankreichs.

Mit seinen militärischen Erfolgen und seinem politischen Geschick im Krieg in Oberitalien legt Napoleon das Fundament für die Übernahme der Macht in Paris, die schließlich 1799 erfolgt. Napoleon erklärt die Revolution für beendet und beginnt mit der Eroberung Europas: Binnen weniger Jahre besiegt er die Großmächte Österreich und Preußen, erobert mit Ausnahme Groß-Britanniens und der Schweiz ganz Westeuropa und versucht schließlich, Russland niederzuzwingen. Auch wenn Napoleon am Ende scheitert und besiegt wird, so haben doch die Jahre der napoleonischen Herrschaft Europa für immer verändert.

Johannes Willms, Historiker und Journalist und einer der besten deutschen Frankreich-Kenner, hat 2005 eine gut lesbare und beeindruckend kenntnisreiche Biographie Napoleons vorgelegt. Mit zahlreichen Briefzeugnissen lässt er ein lebendiges Porträt dieses militärischen und machtpolitischen Genies entstehen.

Johannes Willms: Napoleon. München: Pantheon, 2007. ISBN: 978-3-570-55029-8. Preis: € 16,95.

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Bobby

1968 war ein krisenhaftes Jahr sowohl in Europa als auch in Amerika: Dr. Martin Luther King, der Führer der schwarzen Bürgerrechtsbewegung, wird am 4. April im Memphis erschossen, Rassenunruhen sind Folge davon, der Krieg in Vietnam verschärft sich weiter und der Blutzoll, den das amerikanische Volk zu zahlen hatte, führte zu landesweites Protesten von Jugendlichen, Veteranen und Bürgerrechtlern.

In dieser innen- und außenpolitisch angespannten Lage entschließt sich der New Yorker Senator Robert F. Kennedy, Bruder des 1963 ermordeten John F. Kennedy, von seinen Anhängern familiär Bobby genannt, für die Demokraten als Präsidentschafts-Kandidat anzutreten. An dem Abend des 4. Juni 1968, nachdem er die Vorwahlen in Kalifornien deutlich für sich entschieden hatte, hält er im Ambassador Hotel, Los Angeles, eine Dankesrede an seine Mitarbeiter. Als er den Saal anschließend durch den Küchentrakt verlässt, wird er von einem Palästinenser niedergeschossen. Am 6. Juni 1968 erliegt er seinen Verletzungen.

Der Film »Bobby« porträtiert den Verlauf des 4. Juni im Ambassador Hotel. Dabei verfolgt Regisseur und Drehbuchautor Emilio Estevez 22 verschiedene Personen, von der Küchenhilfe bis zur Diva, vom Wahlkampf-Helfer bis zu einem jungen Ehepaar. Nahezu alle diese Rollen sind unglaublich prominent besetzt: Harry Belafonte, Anthony Hopkins, Laurence Fishburn, Helen Hunt, Martin Sheen, Demi Moore, Sharon Stone, Elijah Wood, William H. Macy und, und, und. Dabei gelingt dem Film nicht nur ein überzeugendes Kaleidoskop menschlicher Geschichten, sondern jedes dieser Blitzlichter beleuchtet auch einen Aspekt der US-Kultur am Ende der 60er Jahre.

»Bobby«. USA, 2006. 2 DVDs, Arthaus. Länge: ca. 112 Minuten. Sprachen: Deutsch u. Englisch. Extras: Making-of; 3 Dokumentationen; Interviews mit Regisseur und Stars. Preis: ca. € 18,-.

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Ilias

Am Anfang der westlichen Literaturtradition stehen zwei umfangreiche Epen, »Ilias« und »Odyssee«. Beide beschreiben Ereignisse, die historisch in das 12. oder 13. vorchristliche Jahrhundert gehören. Wir nehmen heute an, dass es den Trojanischen Krieg Homers nicht wirklich gegeben hat, sondern dass die Epen idealisierte Erzählungen vergangener Heldentaten darstellen, in etwa so, wie die Ritterromane der Romantik den Lesern ein idealisiertes Ritterwesen präsentierten. Auch daran, dass die beiden Epen tatsächlich von der Hand Homers stammen, wird seit langem mit gutem Grund gezweifelt: Zu uneinheitlich sind die Texte, zu verschieden ihre sprachlichen Stile und Dialekte.

Doch all das ändert nichts daran, dass beide Erzählungen immer noch die griechischen Klassiker schlechthin darstellen. Wer aber hat sie heute noch gelesen? Dass beide Epen nur noch so selten zur Hand genommen werden, liegt sicherlich auch daran, dass sie als schwierig und langatmig gelten, zudem noch in Versen geschrieben sind und von einer uns fremden Kultur erzählen. Bei solchen Texten hilft es sehr oft, sie sich vorlesen zu lassen, um einen lebendigen Einstieg für die eigene Lektüre zu finden.

Der Schauspieler Rolf Boysen präsentierte bei Lesungen im Münchner Residenztheater eine gekürzte Fassung der »Ilias«, also der Erzählung von Kampf der Griechen vor den Mauern Trojas, in der Übersetzung Wolfgang Schadewaldts. Boysens fulminante Stimmgewalt bringt den Text dabei so zum Klingen, dass sich beim Zuhörer unweigerlich die Faszination einstellt, die die »Ilias« auf Menschen aller Epochen immer wieder ausgeübt hat.

Homer: Ilias. Gelesen von Rolf Boysen. München: Der Hörverlag, 2004. 6 CDs mit zusammen ca. 462 Minuten Laufzeit. Ca. € 35,00.

Die Abenteuer von Igelfelds

Professor Dr. Moritz-Maria von Igelfeld weiß seine Bedeutung durchaus einzuschätzen: Nicht nur steht sein Name für einen alten Adel, der ihn beinahe berechtigen würde, sich Baron von Igelfeld zu nennen, sondern auch sein bedeutendes Buch »Portugiesische unregelmäßige Verben«, das das Thema auf 1.200 Seiten erschöpfend behandelt, lassen ihn seine minder bedeutenden Kollegen Professor Dr. Dr. h.c. Florianus Prinzel und Professor Dr. Amadeus Unterholzer turmhoch überragen. Zusammen bilden diese drei Professoren den Kern des Romanistischen Instituts der Universität Regensburg, und genauso obskur, wie sich das hier liest, ist das Buch von Alexander McCall Smith auch geraten.

Der subtile Humor der Geschichten über den etwas weltfremden und egozentrischen Professor braucht einige Seiten, um sich voll zu entfalten, wirkt dann aber um so intensiver: Gleichgültig ob Igelfeld versucht, seiner italienischen Pensionsmutter ihr Vorurteil gegen Deutsche auszutreiben, oder ob er dem Papst in der Vatikanischen Bibliothek den Mund verbietet oder einen spontanen Vortrag über Dackel hält, nie verlässt ihn sein angeborenes Selbstbewusstsein und seine natürliche Überheblichkeit.

Der Autor McCall Smith ist im Hauptberuf Jura-Professor und mit Kinderbüchern und Kriminalromanen bekannt geworden. Aus einer Laune heraus erfand er den deutschen Professor von Igelfeld, dessen Erlebnisse er dann in drei rasch nacheinander entstandenen Büchlein erzählte. Die deutsche Ausgabe fasst alle drei Bände in guter Übersetzung zusammen und übernimmt auch die Illustrationen der Originalausgaben.

Alexander McCall Smith: Die verschmähten Schriften der Professor vom Igelfeld. München: Blessing, 2007. ISBN: 978-3-89667-268-1. Preis: € 19,95.

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Eine Brief-Freundschaft

Wir schreiben das Jahr 1949. In New York lebt die noch weitgehend unbekannte Schriftstellerin Helene Hanff, die – wie viele Schriftsteller – auch eine leidenschaftliche Leserin ist. In New York aber findet sie die Bücher, die sie sucht (Klassiker der Antike und englische Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts), nicht oder nur in sehr teueren Ausgaben. Deshalb schreibt sie am 5. Oktober einen ersten Brief an das Londoner Antiquariat Marks & Co. in der Charing Cross Road, in der der Bücherfreund auch heute noch zahlreiche gute Antiquariate finden kann. 20 Tage später gibt Frank Doel, Angestellter bei Marks & Co., zwei der fünf gesuchten Bücher auf den Postweg nach New York.

Dies ist der Beginn einer erstaunlichen Freundschaft zwischen der US-amerikanischen Autorin und den Angestellten des Londoner Antiquariats. Als Helene Hanff kurze zeit später erfährt, dass die Engländer aufgrund der Kriegsfolgen immer noch in ärmlichsten Verhältnissen und von rationierten Lebensmitteln leben müssen, sendet sie spontan ein Lebensmittelpaket an ihre Buchhändler. Damit ist das Eis gebrochen, und aus der geschäftlichen Korrespondenz entwickelt sich Schritt für Schritt erst ein persönlicher Gedankenaustausch über Gott und die Welt und schließlich auch die Anteilnahme an familiären Ereignissen und Geschichten.

Helene Hanff und Frank Doel haben einander nie persönlich kennengelernt. Und nur die Briefe dieses schmalen Bändchens blieben als Zeugnis für ihre ganz außergewöhnliche Freundschaft erhalten. »84, Charing Cross Road« wurde, mit Anne Bancroft und Anthony Hopkins in den Hauptrollen, unter dem Titel »Zwischen den Zeilen« auch verfilmt.

Helene Hanff: 84, Charing Cross Road. Eine Freundschaft in Briefen. btb Taschenbuch 73129. ISBN: 978-3-442-73129-9. Preis: € 7,00.

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Das Wetter vor 15 Jahren

Vittorio Kowalski wird bei »Wetten, dass..?« Wettkönig, weil er für jeden einzelnen Tag der vergangenen 15 Jahre das Wetter kennt, das in einem kleinen Alpendorf geherrscht hat. Es ist das Dorf, in dem er als Junge zusammen mit seine Eltern viele Jahre Urlaub gemacht hat. In dem Jahr, in dem sich aus einer Kinderfreundschaft mit Anni eine erste Liebe entwickelt, reisen die Eltern vorzeitig ab und fahren anschließend nie wieder in diesen Ort. Vittorio glaubt, dies sei seine Schuld, denn während er sich mit Anni in einer Hütte geliebt hat, ist draußen im Unwetter Annis Vater ums Leben gekommen.

Voller Schuldgefühle bricht er zwar den äußeren Kontakt ab, hält ihn aber innerlich aufrecht, in dem er das Wetter im Dorf Tag für Tag auswendig lernt. Erst durch seinen Auftritt bei »Wetten, dass..?« kommt es wieder zum Kontakt mit Anni, die immer noch im Dorf lebt. Vittorio fährt zu ihr, erfährt von ihrer bald bevorstehenden Heirat und wird auf einem einsamen Spaziergang in genau der Hütte, die damals den beiden Jugendlichen Zuflucht geboten hat, verschüttet. Während der Tage, die er in der Hütte eingeschlossen verbringt, macht er eine Entdeckung, die die vergangenen Ereignisse in einem völlig neuen Licht erscheinen lassen …

Wolf Haas, der zuvor schon als Krimiautor erfolgreich war, erzählt diese Geschichte auf eine höchst originelle Weise, nämlich als Interview zwischen ihrem Autor und einer Journalistin. Dadurch steht weniger die Liebesgeschichte als vielmehr der Prozess des Schreibens im Mittelpunkt. Nur Stück für Stück erfährt der Leser den Inhalt des in Wirklichkeit ungeschriebenen Romans um Vittorio Kowalski.

Wolf Haas: Das Wetter vor 15 Jahren. Hamburg: Hoffmann und Campe, 2006. ISBN: 978-3-455-40004-5. Preis: € 18,95.

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