Die literarische Tradition, in der ein Großteil der heutigen Belletristik steht, ist gerade einmal etwas mehr als 250 alt. Deshalb sind uns die Bücher ab etwa der Mitte des 18. Jahrhunderts normalerweise einigermaßen leicht zugänglich, während sich die meisten Erzählungen und Gedichte aus der Zeit davor als eher sperrig und unzugänglich erweisen. Natürlich gibt es auch hier wieder graduelle Unterschiede, aber gerade zu Gedichten der Antike dürften nur wenige heutige Leser einen unmittelbaren Zugang finden.
Der österreichische Schriftsteller, Übersetzer und Literaturwissenschaftler Raoul Schrott (geb. 1964), dessen provokativen Thesen zu Homer und der »Ilias« vor einigen Jahren in den Feuilletons kontrovers diskutiert wurden, hat sich angesichts dieser Situation die Mühe gemacht, auf mehr als 500 Seiten eine reiche Auswahl von Gedichten aus den ersten 4.000 Jahren der Poesie zusammenzustellen, zu übersetzen und zu erläutern. Er beginnt mit den ersten bekannten poetischen Texten der Sumerer, die im 24. Jahrhundert vor Christus entstanden sind, und führt den Leser mittels ausgewählter Beispiele über die altgriechische, römische und arabische Literatur bis hin zu Dafydd ap Gwylim, einem walisischen Dichter des 14. Jahrhunderts.
Dieser Rundgang durch die Lyrik von vier Jahrtausenden erweist sich als ein unterhaltsames Leseabenteuer. Man kann Schrott dabei entweder chronologisch folgen oder sich einzelne Kapitel stöbernd herauspicken. Schrotts Übersetzungen sind immer frisch und direkt, seine Einführungen zu den einzelnen Kapiteln auch für den Laien gut verständlich.
Raoul Schrott: Die Erfindung der Poesie. Gedichte aus den ersten viertausend Jahren. dtv Taschenbuch 13144. ISBN: 978-3-423-13144-5. Preis: € 12,50.