Nachdem Widmer im Jahr 2000 »Der Geliebte der Mutter«, das ich in der letzten Woche empfohlen habe, veröffentlicht hatte, wurde von Kritikern angemerkt, dass der Vater des Erzählers in dem Buch praktisch keine Rolle spiele. Widmer versprach daraufhin, auch ein Buch über den Vater zu schreiben. Vier Jahre später lag es tatsächlich vor: »Das Buch des Vaters«.
Während »Der Geliebte der Mutter« eine tragische Liebesgeschichte erzählt, ist »Das Buch des Vaters« von Beginn an als Schelmengeschichte angelegt. Der Vater, Karl, stammt aus der Schweizer Provinz, einem Dorf, in dem vor den Häusern die Särge der Bewohner aufgestapelt sind und alle Kinder an ihrem zwölften Geburtstag ein leeres Buch erhalten, in das hinein sie von jenem Tag an ihr Leben schreiben.
Dieses »Buch des Vaters« ist das erste in einer unübersehbaren Reihe von Büchern: Der Vater studiert Romanistik, geht nach Paris und kauft dort in den Antiquariaten von seinem wenigen Geld ein Buch nach dem anderen. Er kauft beschädigte Exemplare oder unvollständige Werkausgaben und erliest sich so eine eigene Welt. Doch Freundschaft oder Liebe findet er nicht.
So kehrt er in die Schweiz zurück, schreibt seine Doktorarbeit, heiratet kurz entschlossen die Mutter des Erzählers und taucht wieder in seine Bücherwelt ein: Er wird Lehrer, Übersetzer und Schriftsteller, und während sein privates Leben an ihm vorübertreibt, lebt er mit und in seinen Büchern. Doch dann reißt ihn der Krieg aus seiner Welt heraus, und der Vater wird Soldat und Kommunist …
Mit dem »Das Buch des Vaters« hat Urs Widmer ein überraschendes Gegenstück zu »Der Geliebte der Mutter« geschaffen.
Urs Widmer: Das Buch des Vaters. detebe 23470. ISBN: 978-3-257-23470-1. Preis: € 8,90.