Eine Schulstunde

In seinem letzten Lebensjahr hat Alfred Andersch noch einmal eine Geschichte um die autobiographische Figur Franz Kien aufgeschrieben: »Der Vater ein Mörders«. Es ist die sechste, längste und in der Chronologie der Ereignisse früheste Erzählung.

»Der Vater eines Mörders« berichtet von einer einzigen Schulstunde im Jahr 1928, einer Griechisch-Stunde, die dazu führt, dass Franz Kien vorzeitig das Wittelsbacher Gymnasium in München verlassen muss und eine Buchhändlerlehre beginnt. Franz Kien ist ein schlechter Schüler, obwohl er ein heller Kopf und genauer Beobachter ist und sich über viele Dinge seine eigenen Gedanken macht. Aber Schule interessiert ihn nicht, und Griechisch interessiert ihn am wenigsten.

An dem verhängnisvollen Tag taucht unangemeldet der Rektor des Gymnasiums in der Klasse auf, um einige Schüler einer Prüfung zu unterziehen, darunter auch Franz. Der wird erst später verstehen, dass diese Schulstunde nur eine Inszenierung ist, um ihn von der Schule zu verweisen. Denn Franz’ Vater, ein Kriegsveteran, ist krank, erhält aber keine Pension und kann schon lange das Schulgeld für seine beiden Söhne nicht mehr aufbringen …

Was diese kleine Erzählung heraushebt, ist, dass zu dieser Zeit Joseph Himmler der Rektor des Wittelsbacher Gymnasiums war, der Vater des späteren SS-Führers Heinrich Himmler. Ihre gut 120 Seiten werfen ein Schlaglicht auf die gesellschaftliche und politische Lage in Deutschland zwischen den beiden Weltkriegen. Ein Buch, das keine vorschnellen Urteile fällt und seine Leser nachdenklich zurücklässt.

Alfred Andersch: Der Vater eines Mörders. Diogenes Taschenbuch. ISBN: 978-3-257-23608-8. Preis: € 7,90.

Ein Gedanke zu „Eine Schulstunde

  1. Anlässlich dieser Besprechung musste ich feststellen, dass mein Taschenbuch-Exemplar durch zahlreiche erarbeitende Lektüren inzwischen ziemlich mitgenommen war, und daher habe ich mir ein neues besorgt. Dabei stellte sich heraus, dass Diogenes in der Zwischenzeit den Satzspiegel geändert hat und nun von »gut 120 Seiten« keine Rede mehr sein kann; im Neusatz kommt die Erzählung gerade mal über 70 Seiten hinaus.

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