Tauben im Gras

Wolfgang Koeppen (1906–1996) war wohl einer der wenigen Nachkriegsautoren, der sich der uneingeschränkten Bewunderung Marcel Reich-Ranickis erfreuen durfte. Nach journalistischen Anfängen und zwei Romanveröffentlichungen vor dem Zweiten Weltkrieg kam sein großer Erfolg in den Jahren nach dem Krieg. Zwischen 1951 und 1954 erschien seine »Trilogie des Scheiterns«, mit der Koeppen nicht nur an die internationale europäische Erzähltradition der Moderne anschloss, sondern auch ein bestechend scharfes und kritisches Bild der deutschen Nachkriegsgesellschaft lieferte.

»Tauben im Gras« (1951) ist der erste Band dieser Trilogie. Erzählt wird auf gut 200 Seiten ein einziger Tag in der Zeit nach der Währungsreform wahrscheinlich in München, auch wenn der Name der Stadt nirgends genannt wird. Koeppen verfolgt den Weg von etwa einem Dutzend Haupt- und zahlreichen Nebenfiguren an diesem Tag, so etwa den des Schriftstellers Philipp, der nicht nur unter einer Schreibblockade leidet, sondern auch unter der schwierigen Beziehung zu seiner Freundin Emilia, der letzten Erbin einer einstmals reichen und einflussreichen Familie. Philipp steht der Dichter Edwin gegenüber, der an diesem Tag in die Stadt kommt, um einen Vortrag zu halten; auch der Soldat Odysseus Cotton kommt an diesem Tag in die Stadt, die er den ganzen Tag lang zusammen mit dem Dienstmann Joseph ziellos durchstreifen wird.

Aus dem Zusammenspiel der zufälligen Bewegungen seiner Figuren durch die Stadt – darauf spielt der Titel »Tauben im Gras« an – entsteht ein so prägnantes Gesamtbild der Gesellschaft der jungen Bundesrepublik, wie man es andernorts kaum noch einmal finden wird.

Wolfgang Koeppen: Tauben im Gras. Suhrkamp Taschenbuch 601. ISBN: 978-3-518-37101-5. Preis: € 8,00.

Freitisch

Der Freitisch ist eine uralte akademische Tradition, die auswärtigen, jungen und begabten Studenten aus ärmlichen Verhältnissen das Studium erleichtern sollte. Professoren und andere Honoratioren einer Universitätsstadt luden diese Studenten zu sich an den Mittagstisch ein. Auf diese Weise war nicht nur gesichert, dass die jungen Leute wenigstens eine ausreichende warme Mahlzeit am Tag erhielten, sie kamen auch in familiären Kontakt mit dem gebildeten Bürgertum, konnten ihre Umgangsformen verfeinern und hier und da auch manchen Kontakt knüpfen, der ihnen im späteren Leben vielleicht nützlich sein würde.

Auch im 20. Jahrhundert ist diese Tradition fortgesetzt worden, wenn auch in veränderter Form: Uwe Timm erzählt von einem Freitisch Mitte der 60-er Jahre in München, für den eine große Versicherung ihre Kantine zur Verfügung stellt. Dort treffen sich an einem Vierertisch regelmäßig zwei Germanisten, ein Mathematiker und ein Jurist zum Essen und unterhalten sich über die Welt, die Literatur und besonders den Schriftsteller Arno Schmidt. Um diesen Einsiedler in der Lüneburger Heide zu besuchen, machen sich schließlich der Mathematiker und einer der Germanisten in einem geliehenen VW-Käfer auf den langen Weg nach Norddeutschland.

Erzählt wird all dies als Rückblick der beiden Schmidt-Besucher, die sich über 40 Jahre später zufällig in einer Kleinstadt an der Ostsee wieder begegnen. Der eine ist ein inzwischen pensionierter Lehrer, der andere ein Unternehmer in Sachen Müllentsorgung geworden …

Eine intelligent und lakonisch erzählte Geschichte im Geiste, nicht in der Manier Arno Schmidts.

Uwe Timm: Freitisch. Novelle. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2011. ISBN: 978-3-462-04318-1. Preis: € 16,95.