Der Freitisch ist eine uralte akademische Tradition, die auswärtigen, jungen und begabten Studenten aus ärmlichen Verhältnissen das Studium erleichtern sollte. Professoren und andere Honoratioren einer Universitätsstadt luden diese Studenten zu sich an den Mittagstisch ein. Auf diese Weise war nicht nur gesichert, dass die jungen Leute wenigstens eine ausreichende warme Mahlzeit am Tag erhielten, sie kamen auch in familiären Kontakt mit dem gebildeten Bürgertum, konnten ihre Umgangsformen verfeinern und hier und da auch manchen Kontakt knüpfen, der ihnen im späteren Leben vielleicht nützlich sein würde.
Auch im 20. Jahrhundert ist diese Tradition fortgesetzt worden, wenn auch in veränderter Form: Uwe Timm erzählt von einem Freitisch Mitte der 60-er Jahre in München, für den eine große Versicherung ihre Kantine zur Verfügung stellt. Dort treffen sich an einem Vierertisch regelmäßig zwei Germanisten, ein Mathematiker und ein Jurist zum Essen und unterhalten sich über die Welt, die Literatur und besonders den Schriftsteller Arno Schmidt. Um diesen Einsiedler in der Lüneburger Heide zu besuchen, machen sich schließlich der Mathematiker und einer der Germanisten in einem geliehenen VW-Käfer auf den langen Weg nach Norddeutschland.
Erzählt wird all dies als Rückblick der beiden Schmidt-Besucher, die sich über 40 Jahre später zufällig in einer Kleinstadt an der Ostsee wieder begegnen. Der eine ist ein inzwischen pensionierter Lehrer, der andere ein Unternehmer in Sachen Müllentsorgung geworden …
Eine intelligent und lakonisch erzählte Geschichte im Geiste, nicht in der Manier Arno Schmidts.
Uwe Timm: Freitisch. Novelle. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2011. ISBN: 978-3-462-04318-1. Preis: € 16,95.