Ilias

Am Anfang der westlichen Literaturtradition stehen zwei umfangreiche Epen, »Ilias« und »Odyssee«. Beide beschreiben Ereignisse, die historisch in das 12. oder 13. vorchristliche Jahrhundert gehören. Wir nehmen heute an, dass es den Trojanischen Krieg Homers nicht wirklich gegeben hat, sondern dass die Epen idealisierte ErzÀhlungen vergangener Heldentaten darstellen, in etwa so, wie die Ritterromane der Romantik den Lesern ein idealisiertes Ritterwesen prÀsentierten. Auch daran, dass die beiden Epen tatsÀchlich von der Hand Homers stammen, wird seit langem mit gutem Grund gezweifelt: Zu uneinheitlich sind die Texte, zu verschieden ihre sprachlichen Stile und Dialekte.

Doch all das Ă€ndert nichts daran, dass beide ErzĂ€hlungen immer noch die griechischen Klassiker schlechthin darstellen. Wer aber hat sie heute noch gelesen? Dass beide Epen nur noch so selten zur Hand genommen werden, liegt sicherlich auch daran, dass sie als schwierig und langatmig gelten, zudem noch in Versen geschrieben sind und von einer uns fremden Kultur erzĂ€hlen. Bei solchen Texten hilft es sehr oft, sie sich vorlesen zu lassen, um einen lebendigen Einstieg fĂŒr die eigene LektĂŒre zu finden.

Der Schauspieler Rolf Boysen prĂ€sentierte bei Lesungen im MĂŒnchner Residenztheater eine gekĂŒrzte Fassung der »Ilias«, also der ErzĂ€hlung von Kampf der Griechen vor den Mauern Trojas, in der Übersetzung Wolfgang Schadewaldts. Boysens fulminante Stimmgewalt bringt den Text dabei so zum Klingen, dass sich beim Zuhörer unweigerlich die Faszination einstellt, die die »Ilias« auf Menschen aller Epochen immer wieder ausgeĂŒbt hat.

Homer: Ilias. Gelesen von Rolf Boysen. MĂŒnchen: Der Hörverlag, 2004. 6 CDs mit zusammen ca. 462 Minuten Laufzeit. Ca. € 35,00.

2 Gedanken zu „Ilias

  1. „Auch daran, dass die beiden Epen tatsĂ€chlich von der Hand Homers stammen, wird seit langem mit gutem Grund gezweifelt: Zu uneinheitlich sind die Texte, zu verschieden ihre sprachlichen Stile und Dialekte.“

    Mir fĂŒr meinen Teil wurde die Sachlage vor nicht allzu langer Zeit an der UniversitĂ€t noch anders vermittelt: man zweifelt mittlerweile wieder im Sinne eines strengen Unitarismus, ob nicht doch beide Epen von ein und dem selben Autor stammten. BrĂŒche in den jeweiligen Epen, auf die sich ehedem die These einer Vielzahl von Verfassern gestĂŒtzt hat, sind viel eher dem Umstand zuzurechnen, dass die Epen aus einer Tradition /improvisierten/ Vortrags entstammen und ihre schriftliche Fixierung sozusagen auf dem Übergang von der improvisierten „oral poetry“ zur Schriftkultur vollzieht. (Das schließt aber nicht aus, dass es nicht die eine oder andere apokryphe Stelle gebe.) Zur Frage, ob beide Epen denselben Autor hĂ€tten, meinte ein Dozent von mir einmal, man wisse nur dass der Autor der Odysse die Illias gekannt hĂ€tte. Ob dies der Fall sei, weil er derselbe Autor ist oder nicht, das wisse man nicht. Ein anderer Dozent aber versuchte in einer Vorlesungsreihe einige Argumente fĂŒr einen strengen Unitarismus darzulegen, die mir damals plausibel schienen. An das meiste erinnere ich mich nicht, wohl aber an eines: statistische Untersuchungen zu WorthĂ€ufigkeiten — wie sie in der klassischen Philologie, sofern die Textmenge ausreicht, zur Belegung der Verfasserschaft oder Nicht-Verfasserschaft herangezogen werden — hĂ€tten keine signifikanten Unterschiede ergeben.

    Viel fundierteres als das kann ich leider nicht wiedergeben, weil ich mich nie intensiver damit beschÀftigt habe.

    Etwas anderes: Was ist die Übersetzung, die dem Vortrag von Boysen zu Grunde liegt? Falls es eine hexametrische Übersetzung ist, wĂŒsste ich gerne, ob man am Vortrag erkennen kann, dass es sich um Verse handelt.

    — Oliver

  2. Die Texte hier sind Archiv einer Zeitungskolumne, von daher ist ihr Umfang sehr begrenzt. Bestimmte Sachverhalte lassen sich daher nur recht summarisch darstellen; es ist auch gar nicht der Anspruch, irgend einen gerade aktuellen Stand der akademischen Forschung darzustellen, selbst wenn es eine Einigkeit in der Forschung gÀbe, was offensichtlich nicht der Fall ist. Die von Dir dargestellte Position ist nur eine unter vielen aktuellen Forschungsmeinungen.

    Bei der Übersetzung von Wolfgang Schadewaldt handelt es sich um eine versifizierte, aber nicht hexametrische Übersetzung.

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